Année politique Suisse 1987 : Eléments du système politique / Institutions et droits populaires / Volksrechte
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Ausbau der Volksrechte
Der Entscheid über das neue Abstimmungsverfahren bei Volksabstimmungen über Initiative und Gegenvorschlag war auf den 5. April angesetzt. Die vom Parlament beantragte Verfassungsrevision hatte im wesentlichen zum Ziel, bei derartigen Abstimmungen den Willen des Souveräns korrekter zu erfassen. Dies sollte dadurch geschehen, dass ein Ja sowohl zur Initiative als auch zum Gegenvorschlag zugelassen wird und, bei der Annahme beider Vorschläge, eine Stichfrage über die Präferenz entscheidet. Dass die Stimmen derjenigen, welche für eine Veränderung sind, nicht mehr auf Gegenvorschlag und Initiative aufgeteilt würden, könnte aber auch eine Verbesserung der Gewinnchancen für Reformen bedeuten. Mit Ausnahme der FDP, der SVP und der Liberalen gaben alle schweizerischen Parteien die Ja-Parole aus. Bei der SVP besannen sich zumindest mehrere starke Kantonalsektionen (u.a. BE, GR, SH) auf das geltende Parteiprogramm von 1983, das diese Neuerung befürwortet, und unterstützten die Vorlage ebenfalls. Hauptträger der Opposition waren die Unternehmerverbände (Vorort, SGV, ZSAO), wobei sie in der Propaganda nicht ihre Gegnerschaft zu einem Ausbau der Volksrechte, sondern die Kompliziertheit des Verfahrens in den Vordergrund stellten [31].
Doppeltes Ja. Abstimmung vom 5. April 1987
Beteiligung: 42,3%
Ja: 1 080 992 (63,3%) / 21 Stände
Nein: 627 665 (36,7%) / 2 Stände

Parolen:
Ja: CVP*, SP, GPS, LDU, EVP, NA*, POCH, PDA; SGB, CNG.
Nein: FDP*, SVP*, LP; Vorort, ZSAO, SGV.
* abweichende Kantonalsektionen
Das Abstimmungsergebnis fiel mit 63,3% Zustimmung deutlicher als erwartet aus; auch die Hürde des Ständemehrs wurde bei nur zwei ablehnenden Kantonen (SZ und VS) problemlos gemeistert. Positiv auf die Meinungsbildung dürfte sich ausgewirkt haben, dass in den letzten Jahren mehr als die Hälfte der Kantone bereits in irgendeiner Form ein derartiges Abstimmungsverfahren eingeführt haben. Eine Nachanalyse auf Befragungsbasis ergab, dass als Entscheidmotiv für die grosse Mehrheit der Stimmenden nicht der Ausbau der Volksrechte an sich im Vordergrund gestanden war. Vielmehr hatte für die einen die Ungerechtigkeit des bestehenden, für die andern die Kompliziertheit des neuen Systems den Ausschlag für die Annahme bzw. Ablehnung gegeben [32]. Der Nationalrat hat im Zusammenhang mit diesem Entscheid sein eigenes Abstimmungsverfahren formell festgeschrieben. Er beschloss, dass ein allfälliger Gegenvorschlag zwar vor dem Entscheid über die Abstimmungsempfehlung zur Initiative zu bereinigen ist, dass der definitive Beschluss dazu aber erst nachher erfolgen soll [33].
Die Ausdehnung des Initiativrechts des Volkes auf den Bereich der Gesetzgebung ist 1987 am Veto der bürgerlichen Mehrheit im Nationalrat gescheitert. Die im Vorjahr eingereichten entsprechenden parlamentarischen Initiativen Jaeger (ldu, SG) und Ruf (na, BE) wurden vor allem mit föderalistischen Argumenten bekämpft: Die Ausschaltung des Parlaments aus dem Entscheid über bestimmte Gesetzesänderungen würde die Position der Kantone, die ihren Einfluss heute über den Ständerat einbringen können, unzumutbar schwächen [34]. Es wird jedoch allgemein als Problem anerkannt, dass die bestehende Beschränkung des Initiativrechts zu einer Überlastung der Verfassung mit Gegenständen führt, welche auf Gesetzgebungsstufe abzuhandeln wären. Praktisch als Gegenvorschlag zur Gesetzesinitiative reichte denn auch die SVP-Fraktion einen Vorstoss für die Einführung der sogenannten Einheitsinitiative ein. Bei diesem Instrument würde das Parlament entscheiden, ob eine eingereichte Volksinitiative auf Gesetzes- oder Verfassungsstufe verwirklicht werden soll [35].
Am selben Tag, an dem der Souverän dem Doppelten Ja bei Initiativen mit Gegenvorschlag zustimmte, lehnte er die von der SP mit einer Volksinitiative verlangte Einführung des fakultativen Referendums im Bereich der militärischen Ausgaben ("Rüstungsreferendum") ab. Zugunsten eines nicht nur auf Militärausgaben beschränkten Finanzreferendums hatte 1986 Nationalrat Günter (ldu, BE) eine parlamentarische Initiative eingereicht. Die vorberatende Kommission sprach sich dagegen aus; ihre Minderheit deponierte allerdings eine allgemeiner gehaltene Motion, die in dieselbe Richtung zielt [36]. Im Zusammenhang mit der Energiepolitik kam es zu weiteren Vorstössen für eine Erweiterung des Referendumsrechts. Sowohl die nationalrätliche Energiekommission als auch der Freisinnige Villiger (LU) forderten in der Volkskammer mit Motionen, dass der Grundsatzentscheid über die Bewilligung für Kernkraftwerke dem fakultativen Referendum zu unterstellen sei [37].
 
[31] Vgl. SPJ, 1986, S. 25. Kampagne: BZ, 9.2., 21.2. und 28.2.87; TA,.25.2. und 24.3.87; siehe auch Dokumentation zu den Parolen der Parteien und Verbände (eidg. und kantonale) im FSP, Bern 1987.
[32] BBl, 1987, II, S. 817 ff.; Presse vom 6.4.87; Vox, Analyse der eidgenössischen Abstimmung vom 5. April 1987, Genf 1987. Kantone: BZ, 14.3.87.
[33] Amtl. Bull. NR, 1987, S. 1597 (parl. Initiative Spoerry, fdp, ZH). Vgl. auch SPJ, 1985, S. 25; BBl,1987, III, S. 388 f.
[34] Amtl. Bull. NR, 1987, S. 674 ff.; SPJ, 1986, S. 25 f. 1961 war eine entsprechende Volksinitiative der SP deutlich abgelehnt worden (BBl, 1961, II, S. 1171 ff.).
[35] Kurz nach der SVP reichte auch NR Ruf (na, BE) eine entsprechende pari. Initiative ein (Verhandl. B.vers., 1987, IV, S. 20).
[36] Verhandl. B.vers., 1987, IV, S. 18; NZZ, 24.3.87. Zur Rüstungsinitiative siehe unten, Teil I, 3 (Armement).
[37] Verhandl. B.vers., 1987, IV, S. 37 und 93; NZZ, 11.2.87; vgl. auch unten, Teil I, 6a (Energie nucléaire). Allgemein zum Finanz- und Verwaltungsreferendum siehe auch TA, 30.3.87.