Année politique Suisse 1988 : Partis, associations et groupes d'interêt / Partis
 
Sozialdemokratische Partei (SP)
Mehr als für die anderen Regierungsparteien bestand für die SP Grund, nochmals auf die Nationalratswahlen vom 18. Oktober des Vorjahres zurückzukommen. Diese hatten nicht die von der Partei erhoffte rot-grüne Wende in der schweizerischen Politik gebracht, sondern mit einer herben Niederlage der SP, die einen Fünftel ihres Stimmenanteils verlor, geendet. Der rechte Parteiflügel und Gewerkschaftsvertreter sahen die Ursache dafür in einer Vernachlässigung der Anliegen der Arbeitnehmer sowie in einer zu starken Annäherung an andere linke und grüne Gruppierungen und oppositionelle Bewegungen. Die Parteileitung widersprach dieser Einschätzung und verneinte die Notwendigkeit eines Kurswechsels. Gemäss ihrer Analyse ist die SP auf dem richtigen Weg, wenn sie sich parallel zur gesellschaftlichen Entwicklung von einer traditionellen Arbeiterpartei zu einer "ökosozialen Partei" wandelt. Entscheidend für die Wahlniederlage seien nicht programmatische Fehler gewesen, sondern ein Ungenügen im Bereich der Kommunikation mit den Bürgerinnen und Bürgern sowie Mängel in der Wahlkampfführung in einzelnen Kantonen [17].
Die Sozialdemokratische Partei der Schweiz feierte 1988 ihr hundertjähriges Bestehen. Dieser Anlass bot Gelegenheit zu einem Rückblick auf die. Geschichte und zu Ausblicken auf die zukünftige Politik der SP, welche sich auch publizistisch niederschlugen. In einem von der Partei herausgegebenen Sammelband stellten parteinahe Historiker und Historikerinnen die Entwicklung der schweizerischen Sozialdemokratie dar [18]. Neben dieser Retrospektive befassten sich zwei weitere Bücher mit den Zukunftsaussichten der Partei. Das eine, dessen Autoren in ihrer Mehrheit dem Parteizentrum zuzuordnen sind, setzt sich mit den Ideen auseinander, die von der sich selbst als reformistisch bezeichnenden "SP-Arbeitsgruppe Perspektiven" entwickelt und seit 1986 parteiintern diskutiert worden sind. Die Perspektivengruppe vermied zwar einen direkten Angriff auf das gültige Parteiprogramm von Lugano, plädierte aber für eine pragmatischere und wählernähere Politik, die sich "die Reform und die Modernisierung der Industriegesellschaft" zum Ziel setzt. Diese Thesen stiessen nicht nur bei der Parteilinken auf Kritik, sondern auch bei Vertretern der sich ebenfalls dem Zentrum zuordnenden Geschäftsleitung. So warf der leitende Zentralsekretär der SP, André Daguet, den Perspektiven einen zu kurzen Zeithorizont und eine zu grosse Verhaftung in der Mechanik der Bundeshauspolitik vor [19]. Eine Gruppe von Autorinnen und Autoren, die vorwiegend der Zürcher Parteilinken zuzuordnen sind, veröffentlichte ihre Strategievorstellungen, aber vor allem auch Texte über ihre persönlichen Erfahrungen innerhalb der Partei in einer eigenen Schrift [20].
Mit dem ordentlichen Parteitag vom 7.–9. Oktober in Zürich fanden die Jubiläumsfeiern ihren Höhepunkt. An diesem Anlass galt es zwar auch über Anträge zu entscheiden und Wahlgeschäfte zu erledigen, er stand jedoch weitgehend im Zeichen einer Diskussion über Geschichte und Zukunft der SP. Obwohl dabei durchaus kontroverse Voten zu hören waren, blieben wegweisende Beschlüsse oder gar ein Aufbruch zu neuen Ufern aus. Machtkämpfe zwischen den eher technokratisch orientierten 'Machern' der Perspektivengruppe und denjenigen, welche die Partei als breites Sammelbecken für oppositionelle Bewegungen konzipieren möchten, wurden tunlichst vermieden. Die Delegierten bestätigten den seit 1975 amtierenden Parteipräsidenten Helmut Hubacher mit Applaus für eine weitere Zweijahresperiode; ein Wechsel an der Parteispitze wurde allerdings für den nächsten ordentlichen Parteitag von 1990 in Aussicht gestellt. Zu der für SP-Verhältnisse ungewohnt konfliktarmen Atmosphäre hatte sicher der Beschluss der Parteileitung beigetragen, sich den Forderungen der Parteilinken nach der Durchführung eines Sonderparteitags über die Armeeabschaffungsinitiative nicht zu widersetzen. Damit konnte die Behandlung dieses für die Partei einigen Zündstoff beinhaltenden Themas auf das nächste Jahr verschoben werden [21].
Bei den eidgenössischen Volksabstimmungen gab die SP zur NA-Initiative gegen die Uberfremdung die Nein- und zu den übrigen vier Vorlagen die Ja-Parole aus. Unmittelbar nach den Urnengängen vorgenommene Umfragen zeigten, dass die SP auch nach ihrem Schrumpfungsprozess nicht auf eine ideologisch homogene Wählerschaft zählen kann. Ihre Parolen für die zum Entscheid anstehenden Volksinitiativen wurden – ausgenommen die NA-Initiative – von ihren eigenen Sympathisanten weniger gut befolgt als dies bei den grossen bürgerlichen Parteien der Fall war. So lehnte gut die Hälfte von ihnen die von der SP unterstützte POCH-Initiative für eine Senkung des Rentenalters ab. Bei der Stadt-Land-Initiative folgten 64% der SP-Sympathisanten der Parole ihrer Partei, während die Gefolgschaft bei der FDP und der SVP je 87% und bei der CVP 79% betrug. Aber auch gewerkschaftliche Anliegen fanden bei den mit der SP sympathisierenden Befragten keine uneingeschränkte Zustimmung: 24% sprachen sich gegen die Initiative des SGB für die 40-Stunden-Woche aus [22].
Bei den letzten Nationalratswahlen hatten auf den SP-Listen namentlich die Gewerkschaftsvertreter schlechte persönliche Resultate erzielt und waren zum Teil nicht bestätigt worden. Eine Analyse der Panaschierstimmen ergab, dass es den Gewerkschaftern in der Regel viel weniger als den Kandidierenden des ökosozialen Flügels gelungen war, Zusatzstimmen von parteifremden Wählern zu gewinnen. Als Gegenstrategie schlug der Verfasser der Analyse das Aufstellen von eigenen, mit der SP verbundenen Listen vor [23]. Diesen Rat setzten die Gewerkschaften bei den Wahlen ins St. Galler Kantonsparlament in der Hauptstadt und zwei weiteren Bezirken in die Tat um. Sie begründeten ihr Vorgehen allerdings nicht mit der eigenen Schwäche, sondern mit dem Bestreben, das Stimmenpotential der zu Stimmabstinenz neigenden Arbeitnehmer besser zu nutzen. Ihrer Ansicht nach hat die SP, deren Stimmenanteil bei den letzten Nationalratswahlen im Kanton St. Gallen von 16,3% auf 11,4% geschrumpft war, mit ihrer ökologischen Ausrichtung jegliche Attraktivität für Arbeiter und Angestellte verloren. Das Experiment war insofern erfolgreich, als die beiden Listen zusammen einen etwas höheren Stimmenanteil erzielen konnten als die SP-Liste im Jahr 1984. Die St. Galler SP vermochte ihre Position freilich ebenfalls zu behaupten, als bei den städtischen Wahlen vom Herbst die Kandidaten des SGB wieder auf ihrer Liste figurierten. Auch die Wahlen in andere kantonale Parlamente deuteten darauf hin, dass die SP die Talsohle ihrer Popularität erreicht haben könnte. Sie verlor zwar noch überall leicht an Stimmenanteilen, die Mandatsverluste hielten sich aber in Grenzen. In den beiden Städten Bern und Biel – zwei ehemalige Hochburgen der SP – erlebte sie eine gegensätzliche Entwicklung: in der Hauptstadt sank ihr Stimmenanteil von 27,1% auf 23,5%, in Biel nahm er hingegen von 37,1% auf 42,2% zu [24].
In Freiburg kam es nach einem seit längerer Zeit schwelenden Konflikt zum offenen Bruch zwischen dem am rechten Parteiflügel stehenden Staatsrat Félicien Morel und der kantonalen Partei. Nachdem Versöhnungsverhandlungen gescheitert waren, erklärte der ehemalige Chef der SP-Nationalratsfraktion am 19. November an einer Delegiertenversammlung den sofortigen Parteiaustritt und kündigte an, dass er bei den nächsten Exekutivwahlen seinen Sitz verteidigen wolle. Mit einigen Gesinnungsgenossen aus den welschen Bezirkssektionen bereitete er gegen Jahresende die Gründung eines kantonalen "parti social-démocrate" vor [25]. In Baselstadt besteht eine derartige Abspaltung um Regierungsrat Schnyder schon seit 1982 unter dem Namen Demokratisch-Soziale Partei (DSP). Nachdem in den beiden vergangenen Jahren in Baselland und Graubünden Schwesterparteien gegründet worden waren – wovon erstere 1988 allerdings nicht mehr aktiv war – nahm die DSP im Berichtsjahr die Diskussion über die Gründung einer gesamtschweizerischen Partei auf [26].
 
[17] Presse vom 29.4.88. Siehe Lit. Daguet, Hubacher und Reimann.
[18] Lit. Lang. Siehe auch Presse vom 29.4.88. Zur Gründungsgeschichte der SPS siehe auch Lit. Gruner.
[19] Lit. Werder. Siehe auch Presse vom 17.9.88. Zu den Thesen der Perspektivengruppe siehe SPJ 1986, S. 254; vgl. dazu auch NZZ, 9.2.88 und WoZ, 7.10.88 sowie T. Mayssen in Profil/Rote Revue, 67/1988, Nr. 10, S. 2 ff. Kritik: TW, 23.9.88 (Daguet) sowie die Aufsätze von Kästli, Kaufmann, Vollmer und Daguet in Lit. Werder, S. 13 ff., 21 ff., 27 ff. und 31 ff.
[20] Lit. Bähler. Siehe auch Presse vom 17$.88.
[21] Presse vom 7.–10.10.88. Zur Biografie von Hubacher siehe Bilanz, 1988, Nr. 1, S. 48 ff.
[22] Parolen: Presse vom 11.4. und 24.10.88. Vox, Analyse der eidgenössischen Abstimmung vom 12. Juni 1988, Zürich 1989, S. 11 und Vox, Analyse der eidgenössischen Abstimmung vom 4. Dezember 1988, Zürich 1989, S. 19 und 31.
[23] R. Burger, "Gewerkschafterinnen ohne Chance?", in Lit. Werder, S. 83 ff. Vgl. auch SPJ 1987, S. 47.
[24] Zu den Wahlen vgl. oben, Teil I, Kap. 1e. Zu St. Gallen siehe auch SGT, 5.1., 2.2., 25.8. und 5.9.88; TA, 30.1.88.
[25] Auseinandersetzungen: 24 Heures, 5.6.88; Lib., 11.6., 14.6., 5.7, 12.7 und 13.7.88.; TW, 11.6.88. Die Freiburger SP hatte 1987 Morels Bundesratskandidatur nicht unterstützt (SPJ 1987, S. 26). Austritt: Presse vom 21.11.88. Parteigründung: Lib. und Suisse, 24.12.88; Lib., 30.12.88. Siehe auch F. Morel in TA, 26.11.88.
[26] TA, 24.10.88. Vgl. auch SPJ 1982, S. 200 f. und 1987, S. 302. Zur ersten Generalversammlung der Ende 1987 gegründeten DSP Graubünden siehe BüZ, 8.2.88.