Année politique Suisse 1988 : Chronique générale / Résumé / Jahresthemen — Faits marquants
Im Januar legte die Expertengruppe Energieszenarien ihren Bericht vor, der – im Anschluss an parlamentarische Debatten über die Tschernobyl-Katastrophe und im Auftrag des Bundesrates – die Möglichkeiten des Ausstiegs aus der Kernenergie überprüfte. Einen guten Monat später überraschten Nationalrat Christoph Blocher und ausgewählte Mitglieder aus bürgerlichen Fraktionen Parlament und Öffentlichkeit mit dem Vorschlag, gegen Entschädigung der Bauherrin auf das Projekt des Kernkraftwerks Kaiseraugst zu verzichten. Im Herbst schliesslich präsentierte der Bundesrat seinen Vorschlag zu einem vorgezogenen Energiesparbeschluss. Ohne auf die Option Kernenergie zu verzichten, dokumentierte der Bundesrat damit seinen Willen, bis zum ungewissen Ergebnis eines neuen Verfassungsartikels keine Zeit zu verlieren und mit den Anstrengungen für eine rationelle Energieverwendung Ernst zu machen.
Damit waren an sich günstige Voraussetzungen geschaffen, aus der Sackgasse einer blockierten Energiepolitik herauszukommen, die das Land seit gut zehn Jahren in Anhänger und Gegner der Kernenergie teilt. Der Verzicht auf Kaiseraugst konnte die Entfernung eines Zankapfels bedeuten, der Bundesrat und Parlament die Suche nach einer neuen, mehrheitsfähigen Energiepolitik erleichterte. Die EGES-Szenarien boten dazu eine neue Grundlage. Sie zeigten einen grossen langfristigen Handlungsspielraum der Energiepolitik auf, wiesen aber auf die Notwendigkeit konsequenter Sparmassnahmen hin – gleichgültig ob nun der Ausbau der Kernenergie fortgesetzt, abgebrochen oder unentschieden bleiben sollte.
Der Fortgang der Ereignisse ist bekannt. Die Liquidierung von Kaiseraugst wurde im März 1989 zur beschlossenen Sache, der Energiesparbeschluss dagegen nicht; die EGES-Szenarien wurden dem Parlament nicht vorgelegt und lösten dort keine Diskussion über die energiepolitische Zukunft des Landes aus. Dieses "passive Moratorium", befürchten Kenner wie der Genfer Nationalökonom Tschopp, lässt Zeit ungenutzt verstreichen, in welcher der Stromverbrauch wächst, die Produktion aber stagniert. Wird in einigen Jahren die Versorgungslücke spürbar, bleibt die unerfreuliche Perspektive der "Sachzwangpolitik". Sie wird, ohne Lösung des sozialen Konflikts, entweder zusätzliche Kernkraftwerke oder Stromimporte diktieren.
Lassen wir die inhaltlichen Positionen beiseite, so drängen sich doch einige Bemerkungen über die Lernfähigkeit des Parlaments und der Regierung in jenem Konflikt auf, der wie kaum ein anderer die schweizerische politische Landschaft polarisiert hat.
Geht man von der Hypothese aus, dass gewisse Konflikte nicht aus sachlichen Gründen, sondern aus erstarrten Rollenfixierungen heraus unlösbar werden, so wäre eigentlich das Ereignis "Tschernobyl" ideal für die Aufweichung der Fronten gewesen. Das "systemfremde" Ereignis hätte tatsächlich nicht nur einzelnen Parlamentariern in den unmittelbaren Wochen danach, sondern der Mehrheitspolitik insgesamt ein Überdenken von Positionen erlaubt, ohne das Gesicht zu verlieren. Ansätze dazu waren im Sparbeschluss des Bundesrats sichtbar: dort kamen energiepolitische Entscheidungen für einmal in einer andern Koalition zustande. Beim Parlament, das Tschernobyl seinerzeit ausgiebig diskutierte, scheint das Ereignis aber keine nachhaltigen Spuren hinterlassen zu haben. Die Wirkungen von Umwelt- oder anderen Katastrophen haben oft kurze Halbwertszeiten.
Nun lässt sich das kurzfristige "Vergessen" auch in ausländischen Parlamenten oft beobachten. Parlamentarische Regierungssysteme profitieren indessen von "erzwungenen" Lernprozessen des regelmässigen Rollentausches zwischen Regierung und Opposition. Im schweizerischen Konkordanzsystem, wo Wahlen keine wechselnden Parlamentsmehrheiten bescheren, muss institutionelles Lernen anders gesichert werden: durch das Verhalten der Konkordanzpartner zum einen, durch die Volksrechte zum andern. In der funktionierenden Konkordanz finden Lernprozesse statt, wenn sich die Partner in wechselnden Koalitionen gegenseitige Zugeständnisse machen, oder das Volk "erzwingt" Lernprozesse durch Initiativbegehren oder Referenden.
Die vergangenen 15 Jahre Energiepolitik belegen, wie schwierig dieses institutionelle Lernen werden kann. Zwar kamen nicht nur die Thematisierung der Kernenergiefrage, sondern auch die Revision des Atomgesetzes unter dem Druck von Volksinitiativen zustande. Jenes Umdenken in der Kernenergie – gleichgültig ob richtig oder falsch, aber festzustellen in den meisten westlichen Demokratien – hat damit in der Schweiz vergleichsweise früh und breit eingesetzt. Auf der Ebene des Parlaments dagegen ersetzte im Zuge der Polarisierung des Kernenergiekonflikts eine einseitige Mehrheitspolitik den Kompromiss. Daran hat auch das Jahr 1988 nichts geändert.
Um echte Lernprozesse zu garantieren, müssten vermutlich beide Mechanismen spielen: der Druck durch Volksrechte und eine kompromissfähige Konkordanz. Gerade weil die Energieprobleme des Landes weniger im Technischen als in der Formulierung eines allseits getragenen "Energiefriedens" zu suchen sind, liegt hier ein Testfall dafür vor, ob Parlament und Konkordanz auf der Höhe ihrer Aufgabe bleiben.
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