Année politique Suisse 1988 : Eléments du système politique / Problèmes politiques fondamentaux et conscience nationale / Grundsatzfragen
Der Bau und der Betrieb von Atomkraftwerken und die in den letzten Jahren verschärfte Gesetzgebung und Praxis im Asylwesen führen immer wieder zu
zivilem Ungehorsam beziehungsweise zu verschiedenen Formen illegalen Widerstands. Vertreterinnen und Vertreter von Exekutiven und Behörden betrachten in der Regel die unbedingte Befolgung der demokratisch legitimierten Normen und die Achtung der staatlichen Mittel als oberstes Prinzip des Rechtsstaats und stellen sich deshalb auf den Standpunkt, dass ziviler Ungehorsam den Rechtsstaat bedrohe und deshalb nicht tolerierbar sei. Die Schweizerische Akademie der Geisteswissenschaften befasste sich nun an einem interdisziplinären Kolloquium mit dieser Frage. Hier dominierten Stimmen, die sich gegen diesen "autoritären Legalismus" wandten. Der Rechtsstaat, so wurde etwa argumentiert, sei in seiner realen Ausprägung nicht mit seinem Ziel, nämlich Freiheit, Gerechtigkeit und Humanität, zu verwechseln, sondern vielmehr als Aufgabe zu verstehen, dieses Ziel zu erreichen. Da der so verstandene Rechtsstaat "nur mehr oder weniger legitim" sei, könne auch kein lückenloser Gehorsam gegenüber seinen Gesetzen erwartet werden. Entsprechend wurden jene, die zivilen Ungehorsam üben, aufgerufen, ihre Aktionen nicht nur mit dem eigenen Gewissen zu begründen und bei der persönlichen Betroffenheit stehenzubleiben, sondern mit Gleichgesinnten zu versuchen, eine politische Wirkung zu erzielen, also den Rechtsstaat nach ihren Vorstellungen politisch zu verändern und seinem humanitären Ziel näher zu bringen
[2].
[2] Vgl. Lit. Saladin / Sitter und Saladin / SEK (dazu Presse vom 23.8.88; NZZ, 23.9.88); siehe auch unten, Teil I, 8b (Kirche) und NZZ, 11.7.88; AT, 25.10.88. Zur Frage, ob der Verzicht auf das AKW Kaiseraugst ein Erfolg zivilen Ungehorsams darstelle, vgl. aus bürgerlicher Sicht: NZZ, 14.4.88. Siehe auch Lit. Friedrich (dazu NZZ, 18.6.88 und Kurzfassung des Buches in NZZ, 17.9.88). Zu Kaiseraugst siehe unten, Teil I, 6a (Energie nucléaire). Vgl. auch SPJ 1986, S. 11.