Année politique Suisse 1989 : Politique sociale / Population et travail
Gesamtarbeitsverträge
1989 kann als ein Zwischenjahr betrachtet werden, da keine bedeutenden Gesamtarbeitsverträge (GAV) ausgehandelt oder abgeschlossen wurden. Das heisst aber nicht, dass im Bestehenden kein Zündstoff gelegen hätte. Die Auslieferung des 1988 erbittert ausgehandelten GAV in der Druckindustrie wurde von den Gewerkschaften gestoppt, da der Schweizerische Verband Graphischer Unternehmen (SVGU) einige zehntausend Exemplare des neuen GAV gedruckt hatte, die nicht alle getroffenen Abmachungen enthielten
[24]. Im Buchbindergewerbe herrschte ab Ende September ein vertragsloser Zustand; die Verhandlungen waren nach acht Runden wegen Differenzen bei den Frauenlöhnen ergebnislos abgebrochen worden
[25].
Punktuelle Verhandlungen oder Streitigkeiten wiesen auf recht divergierende Tendenzen hin. Im Zeichen der Individualisierung und Flexibilisierung aller Komponenten des Arbeitsmarkts, vor allem aber der Arbeitszeit, versuchten verschiedene Arbeitgeber, die GAV durch Einzelarbeitsverträge auszuhöhlen. Die Gewerkschaften, die eine Entsolidarisierung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und einen Rückgang ihres Einflusses befürchteten, bekämpften diesen Trend vehement. Dass ihre Sorge nicht ungerechtfertigt war, zeigte sich bei der Erneuerung des GAV in der Basler Chemie, wo von den rund 25 000 Beschäftigten nur noch etwa 8000 dem GAV unterstellt sind: der neue GAV, bei dem die Gewerkschaften ihre Forderungen nur beschränkt erfüllt bekamen, konnte nur knapp unter Dach und Fach gebracht werden
[26]. Wo auch immer möglich, arbeiteten die Gewerkschaften deshalb auf Einheitsverträge für ganze Branchen hin. Erfolge konnten sie dabei in der Baubranche und der Haustechnikbranche erzielen; aber auch bei den Journalisten zeichnete sich ein Zusammenschluss zwischen dem Verband der Schweizer Journalisten und der Schweizerischen Journalistinnen- und Journalisten-Union (SJU) ab
[27].
Einig waren sich die Sozialpartner zum Teil in ihrer Forderung nach
Allgemeinverbindlicherklärung der GAV: die Gewerkschaften im Hinblick auf einen umfassenderen Schutz aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einer Branche, die Arbeitgeber aus Verärgerung, dass nichtorganisierte Betriebe sowohl vom Arbeitsfrieden profitieren als auch Vorteile aus ihrem an keine Abmachungen gebundenen Personalmanagement ziehen können
[28]. Eine Allgemeinverbindlicherklärung kam im Gastgewerbe auf Wunsch der Sozialpartner zustande, da von den rund 105 000 Beschäftigten der Branche nur etwa 20 000 dem 1988 hart umkämpften GAV unterstellt gewesen wären
[29].
Das Biga registrierte für 1989 vier kollektive Arbeitsstreitigkeiten, wovon zwei im Berichtsjahr ihren Abschluss fanden. In zwei Fällen kam es zu einer Arbeitsniederlegung von mindestens einem Tag; die Zahl der daran beteiligten Arbeitnehmer belief sich auf 22 und jene der verlorenen Arbeitstage auf 265. In den beiden anderen Bewegungen beschränkte sich der Arbeitsausfall auf einige Stunden (Warnstreiks). Einer der im Berichtsjahr abgeschlossenen Arbeitskonflikte entfiel auf das graphische Gewerbe, der andere auf den sozialen Bereich. Hauptsächlichster Streikgegenstand war dabei die Entlassung von Mitarbeitern bzw. die Restrukturierung der Unternehmung. Die geringe Zahl von Arbeitsniederlegungen bedeutet aber nicht, dass 1989 bezüglich der Sozialpartnerschaft ein konfliktfreies Jahr war, doch konnten die meisten Streitigkeiten am Verhandlungstisch bereinigt werden.
Aus dem internationalen Vergleich geht hervor, dass in der Schweiz der Arbeitsfrieden weiterhin hochgehalten wird: In den 80er Jahren gingen pro 1000 Beschäftigte lediglich 1,4 Tage durch Streiks verloren, gegenüber 237 in den USA, 666 in der BRD und 1123 in Italien, dem streikanfälligsten Land Europas
[30].
[25] Bund, 8.9.89; TA, 10.10.89.
[26] BaZ, 21.9., 2.11., 22.12 und 23.12.89.
[27] Baugewerbe: NZZ, 22.5.89; Haustechnikbranche: NZZ, 12.12.89; Journalisten: TA, 8.8. und 29.8.89; NZZ, 8.8. und 28.8.89; AT, 2.9.89; klartext, 1989, Nr. 5, S. 27.
[28] BZ, 24.6.89 (Arbeitgeberverband Schweizerischer Maschinen- und Metallbauindustrieller).
[29] NZZ, 8.2. und 12.9.89; TA, 20.7.89. Für die Haltung des Bundesrates und der Verwaltung zur Allgemeinverbindlicherklärung siehe Amtl. Bull. NR, 1989, S. 628 (Antwort auf eine Interpellation Longet, sp, GE) und NZZ, 27.10.89. Für die GAV allgemein siehe auch SPJ 1988, S. 189 f.
[30] Die Volkswirtschaft, 63/1990, Nr. 3, S. 35.
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