Année politique Suisse 1989 : Politique sociale / Santé, assistance sociale, sport
Fürsorge
Im November liess der Bundesrat den Räten seine Botschaft zur
Änderung des Bundesgesetzes über die Zuständigkeit für die Unterstützung Bedürftiger zugehen. Diese Anpassung war im Anschluss an die Revision von Art. 4 Abs. 2 der Bundesverfassung ("Gleiche Rechte für Mann und Frau") notwendig geworden. Dieses Ziel war in der im September 1988 eingeleiteten Vernehmlassung unbestritten gewesen. Allerdings hatten sich vor allem die Zuwandererkantone gegen den Übergang zum reinen Wohnsitzprinzip gewehrt. Diesen Bedenken trug der Bundesrat Rechnung, indem er eine zweijährige heimatliche Rückerstattungspflicht vorschlug. Einige Kantone hatten auch auf die Problematik bei Sucht- und Aidskranken hingewiesen, worauf der Bundesrat die Bestimmung einfügte, dass für die Unterstützung Bedürftiger ohne Unterstützungswohnsitz künftig die Kompetenz zu weitergehenden Hilfeleistungen beim Aufenthaltskanton liegen solle
[52].
Wie an anderer Stelle ausgeführt (siehe unten, Teil I, 8a, Formation professionnelle), beschlossen die Räte gegen den Willen des Bundesrates, die Subventionen an die Schulen für Sozialarbeit aufrecht zu erhalten.
Obgleich dies seit 1986 in vier parlamentarischen Vorstössen verlangt wurde, kann in der laufenden Legislaturperiode auf eidgenössischer Ebene kaum mehr mit einem Bericht über die Armut in der Schweiz gerechnet werden. Dafür wurden Kantone oder Städte in diesem Gebiet aktiv. Angeregt oder eingeleitet wurden Armutsstudien unter anderem in den Städten Bern, Genf und Neuenburg und in den Kantonen Basel-Stadt, Basel-Land, Bern, Neuenburg, Zürich und Zug
[53].
Gesichert scheint eigentlich nur dies: in der reichen Schweiz leben je nach Berechnungsart zwischen 170 000 und 570 000 Menschen am Rand des Existenzminimums.
Wissenschaftliche und empirische Studien zeigten, dass Armut in erster Linie Alleinstehende betrifft, vor allem verwitwete und geschiedene Männer und Frauen, in besonderem Mass aber alleinerziehende Mütter und Rentnerinnen
[54]. Verschiedene strukturelle und punktuelle Strategien im Kampf gegen die Armut wurden diskutiert, immer mehr setzte sich aber unter Fachleuten der Ruf nach einem allgemeinen, gesellschaftlich garantierten Minimaleinkommen gemäss dem Modell der Ergänzungsleistungen durch, welches die heutigen fürsorgerischen, oftmals als demütigend empfundenen Massnahmen ersetzen könnte
[55].
Entgegen den Erwartungen verabschiedete der Bundesrat 1989 keine Botschaft zu einem neuen Gesetz über die Hilfe an Opfer von Gewaltverbrechen. Deren Zahl wurde vom Bundesamt für Justiz auf 5000 bis 10 000 pro Jahr geschätzt
[56]. Der Strafrechtler M. Killias, der Mitglied der vorberatenden Expertenkommission war, gab seinen Befürchtungen Ausdruck, die
ablehnende Haltung der Kantone gegenüber der Besserstellung der Opfer im Strafprozess könnte dazu führen, diesen Aspekt des Gesetzes fallenzulassen, was für die Opfer sehr bedauerlich wäre. Nur eine derartige Disposition würde es seiner Ansicht nach nämlich erlauben, Punkte wie den Ausschluss der Öffentlichkeit bei Prozessen über Sexualverbrechen, den Schutz vor erniedrigender Provokation des Opfers während des Prozesses oder ein Verbot der Publikation persönlicher Daten in den Medien zu regeln. In einer von Killias im Rahmen einer Nationalfondsstudie durchgeführten Umfrage bezeichneten die Opfer sexuelle Gewalttaten, Körperverletzung und Raubüberfälle als folgenschwerste Delikte für die eigene Psyche. Der Autor teilte die Besorgnis feministischer Kreise über die zunehmende Gewalt gegen Frauen, und er rügte, dass die Polizeibehörden sich bei Taten gegen die Person relativ passiv verhielten und nicht selten auch das Verhalten des Opfers in Frage stellten
[57].
Als Beitrag zum besseren Schutz der Frauen beantragte eine vom Nationalrat als Postulat überwiesene Motion Nabholz (fdp, ZH), Selbstverteidigungskurse für Mädchen seien im Rahmen der schulischen Ausbildung und bei den Veranstaltungen von "Jugend und Sport" vermehrt zu fördern. In seiner Antwort befürwortete der Bundesrat zwar eine derartige Ausbildung der Mädchen, verwies aber auf seine geringen Kompetenzen im Schulwesen, die ungünstigen Auswirkungen eines Obligatoriums und den Mangel an qualifizierten Lehrern
[58].
Der VPOD nahm sich einer schleichenden Form der Gewalt gegenüber Frauen an und lancierte eine Kampagne gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz
[59].
[52] BBl, 1990, I, S. 49 ff.
[53] Vat., 4.1.0.89; NZZ, 9.2.89; SGT, 14.4.89; BaZ, 12.9.89; DP, 16.2.89. Zum Stand der Armutsforschung siehe NZZ, 22.7.89.
[54] SGT, 14.4.89; NZZ, 22.7.und 22.8.89; Lit. Boddenberg, Schmid. E. Segmüller (cvp, SG) lud in einem überwiesenen Postulat den Bundesrat ein, einen Bericht über die sozialpolitische und wirtschaftliche Stellung alleinerziehender Eltern zu erstellen und die sich daraus ergebenden Folgerungen für die Sozial- und Familienpolitik vorzulegen (Amtl. Bull. NR, 1989, S. 1149).
[55] Lit. A. Mäder / U. Neff. Zur Armut allgemein: Lit. Buhmann; TAM, 21.4.89; DP, 21.9.89; Bilanz, 1989, Nr. 12, S. 62 ff.
[56] SZ, 24.8.89. Siehe auch SPJ 1988, S. 200 f.
[57] Siehe Lit. Killias; BZ, 12.5.89; Emanzipation, 1989, Nr. I, S. 16 ff. und Nr. 9, S. 3 ff.; Femmes suisses, 1989, Nr. 12, S. 6 f.
[58] Amtl. Bull. NR, 1989, S. 580 f.
[59] TA, 19.7.89; Gewerkschaftliche Rundschau, 81/1989, S. 169 ff.; Presse vom 1.9.89.
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