Année politique Suisse 1989 : Politique sociale / Assurances sociales / Berufliche Vorsorge
Einer der Hauptpunkte der Kritik an den Pensionskassen sind die zum Teil sehr mangelhaften Freizügigkeitsleistungen, die es den Kassen ermöglichen, jährlich enorme Mutationsgewinne zu erwirtschaften, und die bei Stellenwechsel oft zu massiven Verlusten in der Altersvorsorge bzw. zu sehr hohen Einkaufssummen in die neue Versicherungskasse führen, was unter anderem auch ein Hindernis für die von der Wirtschaft immer wieder postulierte Mobilität der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen darstellt.
Da in erster Linie die Art. 331a und 331b des Obligationenrechts (OR), die den überobligatorischen Bereich der 2. Säule regeln, für diese Verluste verantwortlich sind, hat sich der Bundesrat bereit erklärt, die Revision dieser Artikel von der allgemeinen Überarbeitung des BVG abzukoppeln und prioritär zu behandeln. Seit Februar 1988 sucht hier eine interdepartementale Arbeitsgruppe unter der Führung des EJPD nach neuen Modellen
[27]. Im Sinn einer Übergangslösung reichte der Tessiner Nationalrat Cavadini (fdp) eine parlamentarische Initiative ein, welche die sofortige Herabsetzung der im OR festgehaltenen Fristen forderte. Um die Diskussionen in den Räten nicht mit zu vielen Vorstössen zum selben Thema zu überlasten, beschloss die vorberatende Kommission, ihre Arbeiten an dieser Initiative bis zum Vorliegen der bundesrätlichen Vorschläge zu sistieren
[28].
Eine grundsätzliche Neuordnung der Freizügigkeitsleistungen fordert die 1988 lancierte
Volksinitiative "für eine volle Freizügigkeit in der beruflichen Vorsorge", die am 7. Juli mit 121 699 gültigen Unterschriften eingereicht wurde
[29]. Diese vom Schweizerischen Kaufmännischen Verein (SKV) ausgehende und von allen Arbeitnehmerorganisationen und Gewerkschaften unterstützte Initiative hat die eher seltene Form der allgemeinen Anregung, bei der Volk und Stände nur über einen unverbindlichen Text, der das grundsätzliche Anliegen formuliert, abstimmen und dem Parlament die anschliessende konkrete Ausarbeitung eines Verfassungsartikels überlassen
[30].
Diese schwache Form einer Initiative wurde wohl auch gewählt, weil sich der Ruf nach einer "vollen Freizügigkeit" zwar politisch gut nutzen lässt, sich die Experten aus allen politischen Lagern aber einig sind, dass die Freizügigkeit bei der heute herrschenden Vielfalt der Pensionskassenstrukturen nie "voll" wird sein können, weil nämlich gerade die für die Versicherten "guten" Kassen, die Leistungsprimatkassen, durch eine volle Freizügigkeit im Sinn einer Herausgabe sämtlicher Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge in ihrer solidarischen Komponente geschmälert würden
[31]. Die Fachleute möchten deshalb eher nach Lösungen suchen, die es den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern erlauben würden, "ohne Substanzverlust" die Stelle zu wechseln
[32]. Die BVG-Kommission sprach sich denn auch mehrheitlich für eine Lösung aus, die auf einem "Barwert der erworbenen Ansprüche" basiert. Als Mindestbetrag müssten bei einem Stellenwechsel die Arbeitnehmerbeiträge (abzüglich Risikoprämie), erhöht um einen mit dem Alter ansteigenden Zuschlag mitgegeben werden. Einkaufssummen müssten gleich berechnet werden wie die Freizügigkeitsleistungen. Bei Spareinrichtungen wäre einem Austretenden das gesamte Sparkapital auszubezahlen
[33].
Wohl weitgehend unter dem Eindruck des ausgetrockneten Arbeitsmarktes gingen bereits mehrere grosse Kassen zu relevant besseren Freizügigkeitsleistungen über, und viele Fachleute sind der Ansicht, dass dieser Trend anhalten wird. Um die Probleme beim Übertritt in den Bundesdienst zu mildern, gab der Bundesrat ein revidiertes Freizügigkeitsabkommen zwischen der Eidg. Versicherungskasse (EVK) und anderen öffentlichrechtlichen Vorsorgeeinrichtungen in die Vernehmlassung
[34].
[27] An einer Tagung am Gottlieb-Duttweiler-Institut (Rüschlikon) im Oktober kündigte der Direktor des BSV an, Bericht und formulierter Entwurf sollten noch vor Ablauf des Jahres an die BVG-Kommission zur Beratung und 1990 in die Vernehmlassung gehen (NZZ, 20.10.89).
[28] Verhandl. B.vers, 1989, IV, S. 23; NZZ, 23.8.89.
[29] BBl, 1989, III, S. 149 ff.; Presse vom 8.7. und 5.9.89. Als "Akt der Solidarität zwischen ausländischen und schweizerischen Arbeitnehmern" wurde in Zusammenarbeit zwischen SGB, CNG und den wichtigsten Immigrantenorganisationen eine Petition lanciert, die sich hinter die Ziele der Volksinitiative stellt, und die im Dezember mit rund 57 000 Unterschriften ausländischer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bei der Bundeskanzlei eingereicht wurde (SGB, Nr. 33, 2.11. und Nr. 40, 21.12.89; Presse vom 19.12.89).
[30] Seit 1891 wurden nur gerade acht der insgesamt 176 Volksinitiativen in dieser Form eingereicht (Ww, 23.2.89).
[32] Gute Versicherungsleistungen, hohe Freizügigkeit und die von Arbeitgeberseite immer wieder geforderte Kostenneutralität werden aber wohl nur schwer vereinbar sein. Mit einer Verteuerung des Ganzen um ein bis zwei Lohnprozente müsste wohl gerechnet werden, obgleich hier auch der Beizug der bisher geäufneten Mutationsgewinne kostendämpfend wirken könnte (Bund, 10.8.89; SHZ, 20.7.89).
[33] Ihre Begründungen und Schlussfolgerungen fassten die vier Experten in der Studie Libre passage dans la prévoyance professionnelle: principes et modifications de la législation en vigeur, Peseux 1988, zusammen. Siehe dazu auch TA, 9.3.89.
[34] TA, 4.8.89; Bund, 10.8.89; Ww, 12.10.89; Suisse, 20.12.89; NZZ, 28.12.89; EVK: NZZ, 4.7.89. Für den in diesem Zusammenhang wichtigen Gesamtarbeitsvertrag in der Metall- und Maschinenindustrie siehe SPJ 1988, S. 189 f.
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