Année politique Suisse 1989 : Politique sociale / Groupes sociaux
 
Flüchtlinge
Obgleich das Modell einer koordinierten Migrationspolitik praktisch einhellig auf Ablehnung stiess, wurden andere Ansätze und Vorschläge des Strategieberichts – die zeitliche Straffung des Verfahrens, die Schaffung eines personell aufgestockten Bundesamtes für Flüchtlingsfragen, ein schärferes Vorgehen gegen das Schlepperunwesen, das weiterhin praktizierte Individualverfahren und die Verbesserung der Rückkehrhilfe – positiv vermerkt [17]. Allgemein begrüsst wurde auch, dass der Strategiebericht durch eine Untersuchung der Fluchtursachen und der diesbezüglich möglichen Hilfsmassnahmen in den Flucht- oder aussereuropäischen Erstasylländern eingeleitet wurde. Nach Ansicht der linken, kirchlichen, humanitären und enwicklungspolitischen Organisationen war die Analyse allerdings zu wenig fundiert. Sie argumentierten, wirtschaftspolitische, menschenrechtsverletzende und kriegerische Fluchtgründe würden zu wenig berücksichtigt und die – zu vage formulierten – Anderungsvorschläge zur schweizerischen Aussen- und Aussenhandelspolitik stünden in keinem Verhältnis zu den Feststellungen über die Fluchtursachen [18].
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Verhärtung der Fronten
Die Diskussionen rund um den Strategiebericht wurden durch die ständig steigende Zahl von Asylgesuchen überschattet: 1989 reisten 24 425 Flüchtlinge in die Schweiz ein, 46% mehr als 1988 [19]. Dieser Zustrom heizte die Kontroversen in der Beurteilung der Asylpolitik wieder kräftig an. Die NA – die von einem "Volksärgernis" sprach – beschloss, eine Volksinitiative "für eine vernünftige Asylpolitik" zu lancieren, deren noch zu bereinigender Text eine restriktive Définition des Flüchtlings, enge Vorschriften für die Vollzugsfristen und eine Plafonierung der Aufnahme enthalten soll [20].
In der Sommersession führte die Diskussion des Berichtes der Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates, der den Bundesbehörden – und insbesondere dem Delegierten für das Flüchtlingswesen (DFW) – Rechtsverletzungen im Fall Maza/Musey vorwarf, zu einer hitzigen Debatte, in deren Verlauf Vertreter der SP, der Grünen und der LdU/EVP-Fraktion die Asylpolitik der Behörden und der bürgerlichen Parteien zum Teil aufs heftigste angriffen. Die CVP vertrat eine mittlere Position, während sich Parlamentarier der SVP und der FDP für ein dezidierteres Vorgehen in der Flüchtlingsfrage stark machten [21]. Im Kielwasser der von SVP-Nationalrat Blocher (ZH) präsidierten "Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz" (Auns) forderte die SVP dann an ihrer Delegiertenversammlung die Anwendung der im geltenden Asylgesetz verankerten Notrechtskompetenzen. Mit ihrem Vorprellen fand sie bei den anderen grossen Parteien jedoch keine Unterstützung [22]. Die FDP ihrerseits rief nach einem dringlichen Bundesbeschluss, demzufolge für illegal eingereiste Asylbewerber ein Zulassungsverfahren eingeführt, das Beschwerdeverfahren gestrafft und die Wegweisung konsequent durchgezogen werden sollte [23].
Die Regierung mochte nicht in den Kanon derer einstimmen, welche die Anwendung des Ausnahmerechts gemäss Art. 9 des Asylgesetzes verlangten. Nach einer asylpolitischen Aussprache im Bundesrat nahm der Vorsteher des EJPD die Beratung des Geschäftsberichtes im Ständerat zum Anlass, die diesbezügliche Haltung des Gesamtbundesrates darzulegen. Nach Meinung der Exekutive sei eine eigentliche Notstandssituation nicht gegeben, führte Koller aus. Gleichzeitig kündigte er aber an, die Regierung prüfe verschiedene Massnahmen, die auf dem Dringlichkeitsweg getroffen werden müssten, um die Schweiz aus der Asyl-Vollzugskrise herauszuführen. Abschliessend rief er die Abgeordneten auf, an der Schaffung eines Konsenses mitzuarbeiten und keine überrissenen Forderungen in die eine oder andere Richtung zu stellen [24].
Im September setzte der Bundesrat eine Expertenkommission ein mit dem Auftrag, bis Ende Januar 1990 ein Asylverfahren zu entwickeln, das sowohl in erster als auch in zweiter Instanz eine wesentliche Beschleunigung erlauben würde. Für die Arbeiten dieser Kommission definierte er klare Zielvorgaben: zu evaluieren seien die Einführung eines Zulassungsverfahrens oder eine allfällige summarische Prüfung gewisser Beschwerden, der Entzug der aufschiebenden Wirkung bei missbräuchlichen Beschwerden, die Verkürzung von Fristen und die Einschränkung der ausserordentlichen Rechtsmittel, doch dürfe dabei an den Grundprinzipien der humanitären Asylpolitik nicht gerüttelt werden. Als Sofortmassnahmen wurden die Ausdehnung des Verfahrens 88 und eine Personalaufstockung beim DFW beschlossen; langfristig, so stellte Koller in Aussicht, müsse – gestützt auf den Strategiebericht – eine umfassende Asyl- und Ausländerpolitik entworfen werden [25].
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Globallösung und R-Stempel
In der Frühjahrssession behandelte der Ständerat als Erstrat die 1987 eingereichte Standesinitiative des Kantons Freiburg, welche die Bundesversammlung aufforderte, noch einmal die Möglichkeiten zu prüfen, die zu einer Globallösung für die seit mehreren Jahren in der Schweiz lebenden Asylbewerber und deren Familien führen könnten [26]. Entgegen der Meinung ihrer Petitions- und Gewährleistungskommission (PGK) beschloss die kleine Kammer knapp, der Initiative keine Folge zu geben. Sie folgte damit der Argumentation von Bundesrat Koller, für den diese Initiative zu spät kam, da der Pendenzenberg der seit mehreren Jahren hännigen Gesuche weitgehend abgebaut sei [27].
Der Gedanke einer Globallösung wurde gleichzeitig auch vom Nationalrat behandelt, der zu drei Petitionen aus Kreisen der Flüchtlingsorganisationen Stellung zu nehmen hatte. Er zeigte dabei Verständnis für mehrere Forderungen der Petenten. Die vorberatende Kommission (PGK) hatte sich noch dem Ruf nach einer Globallösung durch die Eingabe eines Postulates angeschlossen, dieses allerdings gegenüber dem Wortlaut der Petitionen etwas abgeschwächt. Mit der Argumentation Kollers im Ständerat konfrontiert, beschloss sie allerdings, ihr Postulat zurückzuziehen. Hingegen überwies der Rat ein weiteres Postulat der PGK, welches den Bundesrat einlud, die Ersetzung des ihrer Ansicht nach diskriminierenden R-Stempels in Pässen durch andere Mittel zu prüfen. Der Nationalrat überwies auch ein ähnliches Postulat Leutenegger Oberholzer (gb, BL) [28].
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Spannungen zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden
Zündstoff für politische Auseinandersetzungen bildeten weiterhin die Bundeszentren, die der Aufnahme der dem Verfahren 88 zugeteilten Flüchtlinge – fast ausschliesslich Kurden – dienten und die sich oftmals zu eigentlichen Problemherden entwickelten, womit sie in der Bevölkerung nicht unbeträchtliche Emotionen auslösten [29].
Die Kantone, die für die Betreuung derjenigen Asylbewerber zuständig sind, die dem regulären Verfahren unterstellt sind, fühlten sich von den Unterkunftsproblemen überfordert und von den Bundesbehörden im Stich gelassen. Die Kantone Waadt und Zürich drängten deshalb auf Sofortmassnahmen, die mit den Vorschlägen der SVP, das Asylgesetz durch eine Ausrufung des Notrechts ausser Kraft zu setzen, viel gemeinsam hatten [30]. Der Genfer Kantonsregierung stiess vor allem auf, dass Kantone zwar als Erstbefrager Aufgaben vom Bund übernehmen müssen, sich zum konkreten Asylentscheid aber nicht äussern können. In einem vor allem in der Westschweiz stark beachteten Bericht schlug sie deshalb eine Kantonalisierung des Verfahrens vor, bei welchem der Bund nur noch für eventuelle Beschwerdeentscheide zuständig wäre. Gleichzeitig nahm sie die Ende 1988 von ihrem Polizeidirektor vorgebrachte Idee wieder auf, den abgewiesenen Bewerbern zwar keine Saisonniererlaubnis zu gewähren – dies hatte der Bundesrat bereits anfangs Jahr abgelehnt –, aber doch zumindest eine befristete, einmalige Arbeitsbewilligung zu erteilen [31].
Aber auch die Beziehungen zwischen den Kantonen und Gemeinden gestalteten sich teilweise schwierig. Die Fälle, in denen entweder die Stimmbürger oder die Gemeindeverwaltung die Aufnahme von ihnen zugewiesenen Flüchtlingen ablehnten, nahmen deutlich zu. So lieferten sich etwa der Kanton Aargau und die drei Gemeinden Birrwil, Brittnau und Fahrwangen eine regelrechte Kraftprobe, die am Ende des Berichtsjahres noch nicht abgeschlossen war. Die zürcherische Gemeinde Richterswil wollte sich den kantonalen Weisungen ebenfalls nicht fügen und gelangte mit einer staatsrechtlichen Beschwerde ans Bundesgericht, welches diese allerdings abwies [32].
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Internationale Zusammenarbeit
1988 wurden in Westeuropa zwischen 200 000 und 250 000 Asylgesuche eingereicht. Diese Zahlen sind zwar angesichts von weltweit 10 bis 20 Mio Flüchtlingen minim, weisen aberzegenüber früher steigende Tendenz auf [33]. Dies veranlasst die Einreiseländer zu einer engeren Zusammenarbeit der Abwehr. Dabei wird – neben vornehmlich polizeilichen Abmachungen – in den nächsten Jahren voraussichtlich dem "Erstasylabkommen" des Europarates besondere Bedeutung zukommen. Gemäss dieser Vereinbarung, an deren Ausarbeitung sich die Schweiz massgeblich beteiligt hat, würden die Fluchtgründe jeder asylpolitischen Person nur noch von einem einzigen Land – dem Erstasylland – und in einem einzigen Verfahren geprüft. Bei Überlastung eines Staates könnte über das Generalsekretariat des Europarates mit den übrigen Staaten über Umverteilaktionen verhandelt werden. Das Abkommen sieht auch einen erleichterten Informationsaustausch unter den Staaten vor (Weitergabe von Personendaten und Fingerabdrücken) [34].
Die Flüchtlingsorganisationen standen den europäischen Harmonisierungstendenzen im Asylwesen von Anfang an sehr skeptisch gegenüber. Im Oktober fand in Lausanne das Dritte Europäische Forum zum Asylrecht statt. Die Teilnehmer – rund 500 Personen, welche 150 Bewegungen und Organisationen aus zwölf europäischen Ländern vertraten – forderten die freie Wahl des Asyllandes, keine weitere soziale und rechtliche Schlechterstellung der Asylsuchenden und Flüchtlinge sowie eine parlamentarische Kontrolle der "Geheimverhandlungen" der europäischen Regierungen über polizeiliche Zusammenarbeit [35].
Bereits im Sommer hatten sich Landeskirchen aus zwölf Staaten Europas – darunter die Schweiz – in einem Grundsatzpapier gegen eine "Festung Europa" ausgesprochen, die den Flüchtlingen den Weg zu uns versperren würde. Der Schweizerische Evangelische Kirchenbund (SEK) brachte bei Bundesrat Koller seine Bedenken wegen der Mitarbeit der Schweiz an den erwähnten internationalen Abwehrmassnahmen vor. Auch die Schweizerische Bischofskonferenz, der Schweizerische Friedensrat, Amnesty International, die "Asylkoordination Schweiz" und weitere Menschenrechtsorganisationen gelangten mit der dringenden Bitte an den Bundesrat, auf eine Politik der Abwehr zu verzichten und das Prinzip des Non-Refoulements keinesfalls zu verletzen [36].
 
[17] NZZ, 22.12.89. Zum Bericht siehe oben, Ausländerpolitik.
[18] Bund, 14.4.89; TA, 27.5.89; TW, 29.7.89; Presse vom 8.9.89; NZZ, 22.12.89. In einem überwiesenen Postulat der GPK des NR wurde der Bundesrat beauftragt, dem Parlament nach Abschluss der Vernehmlassung einen Bericht vorzulegen (Amtl. Bull. NR, 1989, S. 840).
[19] Presse vom 19.1.90.
[20] Presse vom 6.11.89.
[21] Amtl. Bull. NR, 1989, S. 844 ff. GPK-Bericht: BBl, 1989, II, S. 545 ff.; WoZ, 24.2.89; Suisse und TW, 4.3.89; Presse vorn 15.3.89; Zur Vorgeschichte siehe SPJ 1988, S. 216 f.
[22] Interpellation Blocher: Amtl. Bull. NR, 1989, S. 1205 ff.; BaZ und JdG, 20.3.89. Auns: TA, 23.5.89; BaZ und NZZ, 30.5.89; LNN, 2.6.89. DV SVP: Presse vom 21.8.89. Reaktionen der Bundesratsparteien: BZ, 5.9.89.
[23] NZZ, 12.8. und 5.9.89. Das Zulassungsverfahren würde annähernd 95% der Flüchtlinge betreffen, reisten 1989 doch nur rund 1000 über die offiziellen Grenztore ein. Zur Unmöglichkeit für viele Flüchtlinge, legal einzureisen, siehe die Ausführungen der "Asylkoordination Schweiz" (TW, 8.9.89).
[24] NZZ, 6.6.89; Amtl. Bull StR, 1989, S. 223 ff.; BaZ und NZZ, 8.6.89. Siehe auch Amtl. Bull. NR, 1989, S. 1205 ff.
[25] Presse vom 14.9.89; NZZ, 11.10.89; TW, 17.11.89.
[26] Verhandl. B.vers., V, 1989, S. 18. Siehe dazu auch SPJ 1987, S. 209 f. und 1988, S. 216.
[27] Amtl. Bull. StR, 1989, S. 100 ff. Die welschen StR und die Vertreter der SP stimmten geschlossen zugunsten der Initiative, einzelne CVP-Politiker schlossen sich ihnen an (Presse vom 10.3.89). Ende August nahm hingegen die vorberatende Kommission des NR die Initiative an (Suisse, 1.9.89). Für die Regelung der nach wie vor bestehenden Härtefälle (Asylgesuche, die vor Ende 1986 eingereicht wurden) erliess die Regierung Ende Jahr in einem Kreisschreiben an alle Kantone Weisungen für eine einheitliche Behandlung (Bund und JdG, 13.1.90).
[28] Amtl. Bull. NR, 1989, S. 570 ff. (PGK) und 576 (Leutenegger).
[29] Lib., 26.1. und 27.1.89 (Plasselb, FR); Suisse, 28.1.-16.2.89, 12.4., 12.10.89 (Kirchenasyl und Hungerstreik in Gorgier, NE); Bund, 1.-17.2., 24.2., 6.4., 7.4. (Kirchenasyl und Hungerstreik in Interlaken, BE) und 2.6.89 (Goldswil); BüZ, 1.-6.3., 10.3., 17.3., 3.4., 5.4. und 12.4.89 sowie TA, 13.4.89 (Hungerstreik in Klosters, GR und Besetzung des Neumarkt-Theaters in Zürich). BiiZ, 23.6., 24.6., 29.6., 1.7., 4.7., 8.8., 9.9., 19.9., 28.9. und 4.10.89 (Surcuolm, GR).
[30] Ww, 30.3.89; SGT und TA, 27.5.89.
[31] BaZ, 26.1.89; DP, 1.6.89 und 8.6.89 (Sonderheft); JdG, 1.6.89; Suisse, 1.6. und 8.6.89. Siehe auch SPJ 1988, S. 217 f.
[32] Brittnau, Birrwil und Fahrwangen: AT, 28.9., 18.10., 25.10., 30.10, 31.10, 9.11., 15.11., 24.11„ 5.12., 13.12.89 und 11.-16.1.90. Richterwil: NZZ, 10.3., 10.11. und 21.11.89; Bund, 21.4.90.
[33] SGT, 21.3.89.
[34] BZ, 28.3.89. Haltung der Regierung: Amtl. Bull. StR, 1989, S. 225. Eine engere internationale Zusammenarbeit, u. a. durch die Einberufung einer gesamteuropäischen Konferenz, verlangte auch eine als Postulat überwiesene Motion Müller (fdp, ZH) (Amtl. Bull. NR, 1989, S. 1132 f.).
[35] Presse vom 9.10.89; TA, 2.1 1.89 (grenzüberschreitende polizeiliche Zusammenarbeit).
[36] TA, 27.5., 12.7. und 17.8.89; Presse vom 8.9.89. SEK: TA, 12.7.89; BZ, 13.7.89. Asylkoordination Zürich und Schweizerischer Friedensrat, Keine Rückschaffung bedrohter Flüchtlinge: eine Dokumentation zum non-refoulement, Zürich 1989.