Année politique Suisse 1989 : Enseignement, culture et médias / Culture, langues, églises
 
Kirchen
Der Tessiner "Kruzifix-Streit", bei dem es letztlich um das Verhältnis zwischen Kirche und Staat geht, beschäftigte nun auch die eidgenössischen Räte. Der "Fall", der in der Zwischenzeit deutlich Kulturkampf-Charakter angenommen hat, begann 1984, als im Neubau der Schule von Cadro — einer Gemeinde im Hinterland von Lugano — in allen Klassenzimmern Kruzifixe aufgehängt wurden. Dagegen protestierte ein Lehrer bei der Gemeinde, die sich jedoch hinter die Schulleitung stellte. Unterstützt von der Vereinigung der Freidenker legte der Lehrer beim Staatsrat Rekurs ein, wurde jedoch erneut abgewiesen. Anderer Ansicht war das Tessiner Verwaltungsgericht, das die Beschwerde mit dem Hinweis auf die konfessionelle Neutralität der Schulen (Art. 27 Abs. 3 BV) schützte. Diesen Bescheid mochte die abgewiesene Gemeinde nicht gelten lassen, und sie zog den Fall ans Bundesgericht. Nach längerem Hin und Her gaben die Lausanner Richter die Angelegenheit an den Bundesrat weiter, der 1988 unter Berufung auf die Präambel der Bundesverfassung zugunsten der Gemeinde entschied. Dies wiederum wollten Lehrer und Freidenker nicht hinnehmen und gelangten mit einer Beschwerde an die Bundesversammlung. Am 4. Oktober beschloss die Vereinigte Bundesversammlung auf Vorschlag der Begnadigungskommission, den Entscheid des Bundesrates wegen mangelnder Zuständigkeit aufzuheben und den Fall dem Bundesgericht zur Beurteilung zu überweisen [34].
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Umstrittene Bischofsweihen
In der römisch-katholischen Kirche, besonders im Bistum Chur, wollten sich die Wogen nicht glätten lassen, die bei der 1988 erfolgten Ernennung von Wolfgang Haas zum Weihbischof mit Nachfolgerecht aufgebrandet waren. Bischof Vonderach stellte sich zwar unverdrossen hinter ihn und behauptete, die Ernennung Haas' sei hauptsächlich durch die Schuld der Medien zu einem kontroversen Ereignis geworden, doch konnte dies die Akzeptanz von Weihbischof Haas an der Kirchenbasis kaum fördern [35].
Um die Rechtmässigkeit des Vorgehens Roms im Fall Haas entbrannte unterdessen ein ausgedehnter Juristenstreit, in dem die rechtlichen Bedenken gegenüber der Entscheidung des Vatikans schwer ins Gewicht fielen. Der Kanton Schwyz weigerte sich weiterhin, die Wahl Haas' anzuerkennen und bat den Bundesrat, beim Heiligen Stuhl zu intervenieren und die Rücknahme des Nachfolgerechts zu erwirken. 01 aufs Feuer goss in dieser emotional aufgeheizten Stimmung der ebenfalls als sehr konservativ eingestufte päpstliche Nuntius in Bern, Mgr Rovida, welcher laut einer — später zwar dementierten — Indiskretion die Ansicht vertreten haben soll, dass der Papst in jedem Fall das Recht zur Ernennung eines Weihbischofs mit Nachfolgerecht habe, auch dort, wo ein Konkordat der Ortskirche die Mitsprache sichert, in der Schweiz also in den Bistümern Basel (mit Sitz in Solothurn) und St. Gallen. Obgleich der Nuntius auf seinen Ausserungen nicht behaftet werden konnte, schien dem Bundesrat die Angelegenheit doch als heikel genug, um die Direktion für Völkerrecht anzuweisen, die diesbezüglichen rechtlichen Fragen zu prüfen. Nachdem bereits das Domkapitel Basel den Nuntius hatte wissen lassen, die Ernennung eines Weihbischofs mit Nachfolgerecht würde klar als Konkordatsverletzung betrachtet, traf sich ein EDA-Mitarbeiter mit Mgr Rovida: der Inhalt des Gesprächs wurde zwar nicht veröffentlicht, doch konnte angenommen werden, der Bundesrat habe dem Nuntius dieselbe Antwort erteilt wie das Basler Domkapitel [36].
Prominente Unterstützung erhielten die ob diesen Vorgängen und Ausserungen besorgten römisch-katholischen Kreise durch 163 zum Teil namhafte katholische Theologieprofessoren aus der BRD, Österreich, den Niederlanden und der Schweiz, die im Anschluss an weitere umstrittenen Bischofsweihen in Köln, Wien, Feldkirch und Salzburg gemeinsam eine papstkritische "Kölner Erklärung" publizierten. In dem Thesenpapier ("Wider die Entmündigung – für eine offene Katholizität") warfen sie dem Papst Machtmissbrauch bei der Ernennung von Bischöfen und bedeutende Eingriffe in die Freiheit von Lehre und Forschung vor. Sie kritisierten die unzulässige Geltendmachung seiner lehramtlichen Kompetenz – damit sind die pointierten, "dogmatischen" Ausserungen Johannes Paul II. zur Geburtenregelung gemeint.– und die Missachtung des Geistes der Öffnung, wie ihn das zweite Vatikanische Konzil gebracht hatte, was zu einer Gefährdung der Okumene führe [37].
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"Frieden in Gerechtigkeit"
Das aus christlicher Sicht herausragendste Ereignis des Jahres war die vom 15. bis 21. Mai in Basel stattfindende europäische ökumenische Versammlung "Frieden in Gerechtigkeit", das grösste konfessionsüberspannende Treffen seit der Glaubensspaltung. Die Basler Konferenz war ein eigenständiger Teil des konziliaren Prozesses" für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung, der 1990 in einer Weltversammlung gipfeln wird. Die vom Ökumenischen Rat der Kirchen ausgehende und von Carl Friedrich von Weizsäcker stark geförderte Idee führte auf Einladung der Basler Regierung 700 Delegierte – 350 Repräsentanten des römisch-katholischen Rates der Bischofskonferenzen (CCEE) und 350 Vertreter der rund 120 orthodoxen, evangelischen, protestantischen und christkatholischen Mitgliedkirchen der Konferenz europäischer Kirchen (KEK) – zu gemeinsamem Gebet und engagierter Auseinandersetzung mit den grossen Bedrohungen der Menschheit ans Rheinknie.
Diskussionsgrundlage bildete ein Arbeitspapier, das 1988 in ein breites Vernehmlassungsverfahren gegangen war und dann auf Grund von rund 500 Eingaben umgestaltet, substantiell verbessert und erweitert wurde. Die existentiellen, kriegerischen und ökologischen Bedrohungen der Erde wurden als ineinandergreifende Dimensionen der Krise bezeichnet, die ihre Ursache in den technischen Möglichkeiten der Menschen, letztlich aber in deren Vermessenheit gegenüber dem Leben und der ganzen Schöpfung habe. Schuldenbekenntnis und ökumenische Glaubenshaltung sollten wichtige Marksteine auf dem Weg zur Hoffnung setzen, und die Delegierten wurden aufgerufen, sich für eine gerechte Weltwirtschaftsordnung, für die Durchsetzung der Menschenrechtskonventionen und für eine internationale Friedens- und Umweltordnung einzusetzen. Konkretisiert wurden diese Anliegen in einer langen Liste von Empfehlungen an die politischen Instanzen.
Zur feierlichen Eröffnung der Konferenz, an der Bundesrat Otto Stich die Grüsse der Landesregierung übermittelte, strömten Tausende von Christen nach Basel. Die Basis machte denn auch eifrig bei den zahlreichen Hearings und beim kulturellen Begleitprogramm mit, während die Sitzungen im Plenum und in den Arbeitsgruppen den Delegierten – unter ihnen nur rund ein Drittel Frauen – vorbehalten waren. Dabei ging es nicht nur friedlich zu und her. Osteuropäische Delegierte kritisierten die westeuropäische Prägung der Tagung, aussereuropäische Gastredner griffen das eurozentrische Entwicklungsmodell für die 3. Welt, das den unterentwickelten Ländern nur Massenelend bringe, in harten Worten an. Für den meisten Zündstoff aber sorgten die Frauen: mit ihrer provokativen Forderung, wer für Gerechtigkeit in der Welt sorgen wolle, müsse zuerst die "Sünde des Sexismus" ausrotten, sorgten sie für recht viel Wirbel, und die Thesen der feministisch orientierten Theologie, gerieten in manchen Konflikt mit den Überzeugungen der katholischen und orthodoxen Delegierten.
Die Versammlung rang hart um das schliesslich mit überwältigendem Mehr angenommene Schlussdokument, dessen Publikation denn auch mehrmals verschoben werden musste. 600 Anderungsvorschläge wollten diskutiert und berücksichtigt sein. Das lange Warten lohnte sich aber, da das Schlussdokument, welches weitgehend mit dem Arbeitsdokument identisch ist, nach Ansicht aller Beobachter griffiger und schärfer geworden war. Die Utopie einer gerechteren Weltwirtschaftsordnung blieb zwar weiterhin recht konturlos und die Empfehlungen zu den einzufordernden Rechten der Frauen wurden noch vager, sollen sie doch nur mehr "in die Entscheidungsfindungsprozesse", nicht aber in die "Kirchenleitung", wie es im Arbeitsdokument noch geheissen hatte, einbezogen werden. Viel an Inhalt und Überzeugungskraft gewann hingegen die Vision einer umfassenden Ökumene durch das Bekenntnis der Delegierten, auf eine Wiedervereinigung hinarbeiten zu wollen. Verstärkt zum Tragen kamen auch die Rechte der Jugendlichen, der Kinder — die hier überhaupt erstmals erwähnt wurden — und der Flüchtlinge. Deutlicher als das Arbeitsdokument bekräftigte das Schlussdokument die Bedeutung friedensfördernder Massnahmen und das Recht auf Militärdienstverweigerung. Unzweideutig war auch die Haltung gegen Rassismus — wozu neu auch die "Einwanderungs- und Ausländergesetze gewisser europäischer Staaten" gezählt wurden — und gegen die Apartheid. Eine Neufassung erfuhr auch die Passage über die Stellung der osteuropäischen Staaten innerhalb Europas [38].
Eine erste Umsetzung fand der Geist von Basel in den Veranstaltungen zum "Berner Ereignis" und zum Zürcher "Brückenschlag", wo Gläubige an der Basis versuchten, den einsetzenden Gesinnungswandel über die Grenzen der Kirchen hinauszutragen [39]. Aber auch die Landeskirchen fühlten sich bestärkt, bereits früher begonnene Prozesse weiterzuführen und zu vertiefen. So veröffentlichten die bischöfliche Kommission Iustitia et Pax und die Kommission für soziale Fragen des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes (SEK) im Vorfeld der Abstimmung über die GSoA-Initiative ein Thesenpapier ("Sozialethische Überlegungen zur Diskussion über die Abschaffung der Armee"), das sich nicht als Abstimmungsparole verstanden wissen wollte, sondern als Denkanstoss für eine aktive Friedenspolitik. Der Vorstand der evangelischen Landeskirchen sprach sich in der Folge allerdings klar für eine Beibehaltung der Armee aus; die katholische Bischofskonferenz tat dies nicht ausdrücklich, liess aber ebenfalls durchblicken, dass sie eine Abschaffung der Armee im heutigen Zeitpunkt nicht für möglich halte [40].
Die Frauenanliegen wurden — wie bereits in Basel — recht unterschiedlich behandelt. Dort, wo die Frauen nur forderten, in der Kirchenleitung angemessener vertreten zu sein oder stärker als bisher beratende Funktionen zu übernehmen, wurde ihnen Verständnis entgegengebracht: Frauen wurden vermehrt in Synodal- und Kirchenräte gewählt oder präsidierten sie gar, und die Schweizerische Bischofskonferenz (SBK) schuf die seit langem angeregte Frauenkommission [41]. Aber dort, wo die kirchlich engagierten Frauen kompromisslos politisierten, wo sie sich auf den Standpunkt einer feministischen Theologie stellten, stiessen sie oft auf Ablehnung. Wegen seiner "Angriffe auf die Fundamente der Kirche" — so die offizielle Interpretation — erhielt der luzernische Verein "Frauen und Kirche", in welchem die bekannte Theologin Li Hangartner eine zentrale Rolle einnimmt, von der katholischen Synode des Kantons nur noch eine begrenzte finanzielle Unterstützung. In Zürich war es die protestantische Kirche, die den progressiven Frauen die Toleranz aufkündigte: nach fünf Jahren wurde der Disputationsgruppe "Frausein — Kirchesein ", der sich einige Monate zuvor der neugegründeten und deutlich feministischen "Ökumenischen Frauenbewegung Zürich" angeschlossen hatte, das Gastrecht in der Fraumünsterkirche entzogen mit der Begründung, die Frauen, die sich dort einmal pro Monat zu einem gemeinsamen Gottesdienst trafen, würden die Kirche für sich allein beanspruchen. Die Lösung, die schliesslich gefunden werden konnte, nämlich die des itineranten Gastrechts, wurde vom Synodalrat zwar als breite Streuung gepriesen, konnte aber durchaus auch als Peripherisierung der Frauenanliegen gewertet werden [42].
 
[34] Amtl. Bull. NR, 1989, S. 1833 f.; CdT, 24.1., 3.6. und 5.10.89.
[35] TA, 14.9.89; NZZ, 15.9.89. Pfarreien oder Eltern lehnten Haas als Firmspender ab: Vat., 21.1., 26.1., 11.2. und 18.2.89; BüZ, 23.1. und 16.2.89; LNN, 27.1. und 16.2.89; NZZ, 4.3.89.
[36] Juristische Gutachten: TA, 16.6.89; BüZ, 22.6.89; Ww, 22.6.89; Vat., 23.6.89; BüZ, 11.7.89. Kanton Schwyz: Vat. und NZZ, 7.6.89; TA, 16.6.89; LNN, 30.6.89. Äusserungen Rovidas und Reaktionen darauf: Vat., 5.1.89; TA, 6.1.89; BaZ, 6.1., 13.1.89; BZ, 16.1.89; SZ, 21.1.89; BüZ, 11.3.89; NZZ, 21.3.89. Bischofskonferenz: BZ, 20.1.89; Vat. und SZ, 5.4.89; NZZ, 7.4.89. Direktion für Völkerrecht: NZZ, 12.4.89. Interviews Rovida: NZZ, 27.4.89; SZ, 6.5.89; Basler Domkapitel und EDA: Vat., 11.5.89. Diözesankonferenz: BaZ und NZZ, 12.9.89.
[37] TA, 27.1.89 und 15.3.89; Wiv, 2.2.89 (Interview mit dem Schweizer Moraltheologen und Mitunterzeichner Franz Böckle); BZ, 4.2.89; Suisse, 27.2.89.
[38] BaZ und BZ, 26.4.89; NZZ, 28.4.89; Vat., 12.5.89; BaZ und SGT 13.5.89; Suisse, 14.5.89; Presse 16.5.-22.5.89; Ww, 25.5.89; WoZ, 26.5.89; SZ, 27.5.89 (Auszüge aus dem Schlussdokument). Frauen: TA, 12.5. und 19.5.89.
[39] "Berner Ereignis": Bund, 21.6., 29.8., 8.9., 15.9. und 14.10.89. "Brückenschlag": NZZ, 5.9., 22.9., 25.9., 28.9. und 29.9.89; TA, 16.9., 25.9. und 30.9.89.
[40] Thesenpapier: NZZ, 19.5.89; TA, 20.5.89. SEK: NZZ, 1.6.89. SBK: NZZ, 8.9.89.
[41] Theologische Frauenkonsultation des SEK: BZ, 24.4.89; NZZ und BaZ, 25.4.89. Synoden: BaZ, 3.3. und 6.7.89 (BL); AT, 18.5.89 (AG); Dém., 6.6.89 (JU); NZZ, 9..6.89 (ZH); Vat. 13.6.89 (LU); SZ, 13.11.89 (SO). SBK: NZZ und TA, 10.3.89.
[42] Luzern: LNN, 10.11.89. Zürich: TA, 7.6., 4.7., 15.7., 19.7. und 22.11.89; NZZ, 3.7., 4.7., 11.9., 10.11., 15.11. und 22.11.89.