Année politique Suisse 1990 : Partis, associations et groupes d'interêt / Associations et autres groupes d'interêt
 
Arbeitnehmer
Im Zentrum des Kongresses des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes vom 18.-20. Oktober in Interlaken stand die Regelung der Nachfolge des zurücktretenden Präsidenten, des SP-Nationalrats Fritz Rei-mann (BE). Dabei setzte sich der Zürcher VPOD-Sekretär und ex-Nationalrat Walter Renschler (sp) gegen die Präsidentin des Syndikats der Medienschaffenden, Tiziana Mona, und den Sekretär des Solothurner Gewerkschaftsbundes, Nationalrat Ernst Leuenberger (sp) durch. Während Leuenberger im ersten Wahlgang ausschied, vermochte Renschler die Tessiner Journalistin Mona im zweiten Durchgang nur knapp zu distanzieren [10].
Zweites wichtiges Kongressthema war die Diskussion über ein Papier der SGB-Leitung zur europäischen Integration. Die Delegierten äusserten sich vorwiegend positiv zu einem Beitritt der Schweiz zur EG, knüpften daran allerdings einige Bedingungen im sozialen Bereich. Es waren vor allem die Delegierten des SMUV und der GBH, welche sich für einen Beitritt einsetzten und den Vorstand zu einer rascheren Gangart drängten. Eine Delegiertenkonferenz des SMUV beschloss im November, die von einigen Medienunternehmen lancierte Volksinitiative für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der EG zu unterstützen [11].
An seinem Kongress in Interlaken beschloss der SGB auf Antrag des SMUV einstimmig, am 14. Juni 1991 einen landesweiten Frauenstreik zu organisieren. Damit soll darauf aufmerksam gemacht werden, dass auch zehn Jahre nach der Annahme des Gleichheitsartikels in der Bundesverfassung die Gleichstellung der Geschlechter, namentlich im Lohnbereich, noch nicht verwirklicht ist [12].
Die Auseinandersetzungen über einen neuen Gesamtarbeitsvertrag für das Buchbindergewerbe zeigte, dass sich selbst die Gewerkschaften mit der lohnmässigen Gleichstellung der Geschlechter zum Teil noch schwer tun. Auf Empfehlung der leitenden Gremien der Gewerkschaft Druck und Papier (GDP) hätten die Gewerkschaftsmitglieder einem Vertrag zustimmen sollen, der bei den Ungelernten unterschiedliche Mindestlöhne für Frauen und Männer vorsah. Die — vom SGB-Kongress mit einer Resolution unterstützte — Frauenkommission der GDP reichte rechtliche Klage ein und erwirkte damit einen Aufschub der Vertragsunterzeichnung [13].
Von den sechs Volksinitiativen, über die 1990 abgestimmt wurde, fanden zwei ("Stopp dem Beton" und "Kleeblatt-N5") beim SGB keine Unterstützung. Den Verfassungsartikel zur Energiepolitik empfahl er zur Annahme, die drei mit Referenden bekämpften Gesetzesrevisionen (Rebbau, Bundesgericht und Strassenverkehrsgesetz) zur Ablehnung. Die Parolen des CNG deckten sich weitgehend mit denen des SGB. Der einzige Unterschied bestand darin, dass er alle drei Kleeblattinitiativen (also auch den Verzicht auf die N5) unterstützte [14]. Im Herbst lancierte der SGB gemeinsam mit der SPS eine Volksinitiative für einen Ausbau der AHV auf Kosten der 2. Säule [15].
Die politisch zwar aktive, aber unter Mitgliederschwund leidende Gewerkschaft Textil, Chemie, Papier (GTCP) beschloss auf Antrag ihres Zentralvorstandes, einen Zusammenschluss mit der Gewerkschaft Bau und Holz (GBH) anzustreben. Die GTCP hofft mit dieser Fusion attraktiver für die Arbeitnehmer der von ihr bearbeiteten Branchen zu werden, da sie das bessere Dienstleistungsangebot der mehr als zehnmal grösseren GBH wird anbieten können [16]. Der rund 3000 Mitglieder zählende Verband der Bekleidungs-, Leder- und Ausrüstungsarbeitnehmer (VBLA) beschloss, mit dem SMUV, mit welchem er schon seit längerer Zeit eng zusammenarbeitet, Verhandlungen über eine Fusion aufzunehmen. Wie bei der GTCP war auch beim VBLA die Wahl des Anschlusspartners mehr eine Frage der politischen Ubereinstimmung als der beruflichen Verwandtschaft [17]. Auch beim Christlichnationalen Gewerkschaftsbund (CNG) waren ähnliche Bestrebungen auszumachen. Der Christliche Metallarbeiterverband (CMV) taufte sich in Christliche Gewerkschaft für Industrie, Handel und Gewerbe um, mit dem Ziel, für die bisher schwach vertretenen Frauen und Angestellten attraktiver zu werden. Zudem beschloss der CMV, in Zukunft eng mit dem wesentlich kleineren Christlichen Transport-, Handels- und Lebensmittelpersonalverband (CTHL) zusammenzuarbeiten und dessen Mitglieder von den eigenen Dienstleistungen profitieren zu lassen [18].
Die Zürcher Ständerätin Monika Weber (ldu) gab bekannt, dass sie auf Mitte 1991 wegen Arbeitsüberlastung von ihrer Stelle als Generalsekretärin des Schweizerischen Kaufmännischen Verbandes (SKV) demissionieren werde [19].
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Mitgliederbewegung
Die Mitgliederzahl des SGB erhöhte sich 1990 um 0,6% auf 443 885. Die Zahl der im SGB organisierten Frauen stieg um 2,5% auf 56 500, was einem Anteil von 12,7% entspricht. Den grössten absoluten Zuwachs verzeichnete die Gewerkschaft Bau und Holz (GBH), welche mit 124 501 stärkste Organisation des SGB blieb und in den letzten zehn Jahren ihren Mitgliederbestand um gut 11 000 zu steigern vermochte. Der Metall- und Uhrenarbeitnehmerverband (SMUV) hatte erneut einen Mitgliederrückgang zu beklagen; immerhin konnte er, nach dem Rückschlag im Vorjahr, wieder mehr Frauen (+498) zum Beitritt animieren.
Auch beim Christlichnationalen Gewerkschaftsbund (CNG) war die Gewerkschaft der Baubranche (Christlicher Holz- und Bauarbeiterverband) äusserst erfolgreich bei der Mitgliederwerbung. Er konnte seinen Bestand um 2216 (+4,8%) auf 48 064 steigern. Da namentlich auch die Christliche Gewerkschaft für Industrie, Handel und Gewerbe (CMV, früher Christlicher Metallarbeiterverband) kräftig zulegen konnte, erhöhte sich die Zahl der CNGMitglieder innert Jahresfrist um 5341 auf 116 482. Bei der grössten Angestelltenorganisation, dem Schweizerischen Kaufmännischen Verband, war die Mitgliederzahl erneut rückläufig; sie reduzierte sich um 1568 auf 73 988.
In den achtziger Jahren haben der SGB knapp 16 000 und die Vereinigung schweizerischer Angestelltenverbände (VSA) gut 9 000 Mitglieder eingebüsst, während der CNG – vor allem dank seiner erfolgreichen Bauarbeitergewerkschaft – knapp 10 000 gewonnen hat. Unter Berücksichtigung aller Arbeitnehmerorganisationen wurde der gewerkschaftliche Organisationsgrad in der Schweiz auf rund 27% geschätzt. Im westeuropäischen Vergleich befindet sich die Schweiz damit vor Frankreich und Spanien (22% resp. 19%) auf dem drittletzten Platz. Ein wichtiger Grund dafür besteht im schlechten Organisationsgrad der Frauen: während rund 37% der Männer gewerkschaftlichen Interessenverbänden angehören, trifft dies nur ungefähr auf 12% der weiblichen Arbeiterinnen und Angestellten zu [20].
 
[10] TW, 15.10.90; Ww, 18.10.90; Presse vom 22.10.90. Zu den drei Kandidaten, welche politisch allesamt dem Zentrum des SGB zugerechnet werden, siehe WoZ, 24.8.90 sowie Gewerkschaftliche Rundschau, 82/1990, S. 146 ff. Zu Renschler siehe auch SHZ, 22.1 1.90.
[11] Presse vom 22.10.90. Siehe auch Gewerkschaftliche Rundschau, 82/1990, S. 3 ff. (Positionspapier), Diskussion, 1990, Nr. 12 sowie SPJ 1989, S. 327 f. SMUV: TA, 19.11.90.
[12] BZ, NZZ und TA, 20.10.90; Presse vom 22.10.90. Vgl. auch "Positive Aktionen. Eine innergewerkschaftliche Strategie zur Gleichstellung von Frau und Mann", in Gewerkschaftliche Rundschau, 82/1990, S. 8 ff. sowie Diskussion, 1990, Nr. 13, S. 22 f.
[13] BaZ, 9.3. und 8.8.90; Diskussion, 1990, Nr. 13, S. 20 f.; Gewerkschaftliche Rundschau, 82/1990, S. 27 (Resolution) und S. 11 ff. (Strategie zur Durchsetzung dér Lohngleichheit in Gesamtarbeitsverträgen). Siehe auch oben, Teil I, 7d (Stellung der Frau).
[14] NZZ, 3.2. und 17.5.90 (SGB); NZZ, 7.3. und 10.9.90 (CNG).
[15] NZZ, 17.5.90. Vgl. dazu oben, Teil I, 7b (Grundsatzfragen).
[16] WoZ, 14.9.90; LNN, 19.9. und 24.9.90; TW und BaZ, 22.9.90; Vr, 24.9.90.
[17] TW, 10.10.90. Allgemein zur Entwicklung der Gewerkschaften siehe F. Troxler, "Situation und Zukunft der Gewerkschaften", in NZZ, 30.4.90.sowie WoZ, 19.10.90.
[18] Vat., 5.11.90; NZZ, 6.11.90. Die Abkürzung CMV
wurde trotz der Namensänderung beibehalten.
[19] NZZ, 17.9.90. Zur Wahl Webers siehe SPJ 1985, S. 244.
[20] H. Anderegg, "Mitgliederentwicklung der Schweizer Gewerkschaften 1990", in Gewerkschaftliche Rundschau, 83/1991, S. 108 ff. Vgl. auch SPJ 1989, S. 328. Zum Organisationsgrad des SGB siehe auch R. Fluder, "Werden die Gewerkschaften vom Strukturwandel überrollt?", in Gewerkschaftliche Rundschau, 82/1990, S. 171 ff.