Année politique Suisse 1990 : Eléments du système politique / Problèmes politiques fondamentaux et conscience nationale / Totalrevision von Kantonsverfassungen
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Kulturboykott
Im Rahmen der Enthüllungen der Parlamentarischen Untersuchungskommission zu den Vorkommnissen im EJPD sowie den weiteren Nachforschungen zur Fichenaffäre innerhalb des EMD stellten sich bei vielen Kulturschaffenden Zweifel ein, ob sie sich an Kulturprojekten im Rahmen der 700-Jahr-Feierlichkeiten aktiv beteiligen sollen oder nicht. Bereits am Jahresanfang zog der Schriftsteller Gerold Späth aus Protest gegen den "Schnüffelstaat" sein für eine 700-Jahr-Feier-Serie von Radio DRS geschriebenes Hörspiel "Lasst hören aus alter Zeit" zurück. Die Diskussion um einen Kulturboykott wurde nun vor allem innerhalb der Autoren- und Autorinnen-Gruppe Olten geführt, ohne dass vorerst jedoch ein kollektiver Boykottentscheid zustandekam [27].
In der Folge unterzeichneten über 700 Kulturschaffende aus der ganzen Schweiz die Erklärung "Keine Kultur zur Feier des Schnüffelstaates". Sie machten die Abschaffung der politischen Polizei und die vollständige Offenlegung von allen Fichen und Dossiers bis Ende Jahr zur Bedingung für die Mitarbeit an kulturellen Veranstaltungen anlässlich der 700-Jahr-Feier [28]. Nachdem diese Erklärung ohne wahrnehmbare Wirkung bei Regierung und Parlament geblieben war, gingen die Initianten einen Schritt weiter und liessen im April der Boykottdrohung den Boykottbeschluss folgen. Bis zum Juli unterschrieben über 500 Kulturschaffende die Boykotterklärung [29].
Die Gruppe Olten, welche sich 1989 noch grundsätzlich gegen einen Boykottaufruf ausgesprochen hatte, stimmte im Juni an ihrer Generalversammlung mit 22 Ja gegen 17 Nein bei 5 Enthaltungen für die Unterstützung des Boykotts. Dass sich Gegner und Befürworter des Boykotts praktisch die Waage hielten, zeigte, wie umstritten diese Frage war. Einerseits betonten die Befürworter den Grundsatzcharakter der Boykottfrage. Kulturschaffende sollten dem Uberwacherstaat nicht durch konstruktive Kritik im Rahmen der Zentenarfeiern dienen, weil sie damit bloss eine Alibifunktion übernehmen und das bestehende Machtgefüge legitimieren würden. Gegner betonten, dass die Mitarbeit an den kulturellen Veranstaltungen eine einmalige Gelegenheit der Mitsprache und Mitgestaltung am kulturellen und politischen Geschehen in der Schweiz sei, die es nicht zu verpassen gelte [30].
Die Debatte zum Kulturboykott und zum Verhältnis zwischen Staat und Kultur erfasste aber auch Organisationen, die nicht zum Kultursektor im engeren Sinn gehören. So haben Mitglieder verschiedener Aktionsgruppen das Komitee "700 Jahre sind genug" gegründet; mit einem Manifest "Schweiz 1991: kein Grund zum Feiern" soll der Protest gegen die staatlich inszenierten Feierlichkeiten ausgedrückt werden. Als Gegenmanifestation zu den offiziellen Anlässen der Eidgenossenschaft plante das Komitee ein grosses Festival, das im Sommer 1991 in Saignelégier (JU) stattfinden und die "andere Schweiz" repräsentieren soll. Andere Veranstaltungen zu Themen wie Umweltschutz, Asylpolitik, Dienstverweigerung oder Bankenpolitik sind ebenfalls vorgesehen [31].
 
[27] Bund, 26.1.90; WoZ, 2.2.90. Vgl. auch SPJ 1989, S. 18.
[28] BaZ und WoZ, 2.2.90; Bund, 3.2.90.
[29] WoZ, 27.4.90.
[30] WoZ, 8.6.90; TA, 11.6.90.
[31] NZZ, 1.11.90; WoZ, 2.11.90.