Année politique Suisse 1990 : Eléments du système politique / Institutions et droits populaires / Regierung
print
Reformbestrebungen
Namentlich die Fichenaffäre, aber auch der unsichere Ausgang der laufenden Verhandlungen mit der EG über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) und die Probleme beim Vollzug der Asylpolitik führten zu vermehrten Zweifeln an der Funktionsfähigkeit des schweizerischen politischen Systems insgesamt und der Regierung im besonderen [5].
Die wachsende Beanspruchung durch internationale Treffen auf Ministerebene diente den beiden Freisinnigen Rhinow (fdp, BL) und Petitpierre (fdp, GE) als Hauptargument für ihre im März eingereichten parlamentarischen Vorstösse für eine Regierungsreform. Im Nationalrat wurde das Anliegen als Motion der freisinnigen Fraktion eingebracht, im Ständerat als parlamentarische Initiative Rhinow. In Form einer allgemeinen Anregung werden darin folgende drei Modelle in den Vordergrund gestellt: entweder die Schaffung von Staatssekretären oder eine grössere Zahl von Bundesräten mit einem verstärkten Präsidium oder eine Regierung, welche aus einem kleinen Führungskollegium und zusätzlichen Ministern für bestimmte Fachbereiche gebildet wird. Noch bevor der Bundesrat seine eigenen Reformvorschläge vorlegen konnte (siehe unten), beschloss der Ständerat, dieser Initiative Folge zu geben und eine Kommission mit der Uberprüfung der Vorschläge Rhinows zu beauftragen. Die Volkskammer, in der auch eine Motion Kühne (cvp, SG) zur Erhöhung der Anzahl der Mitglieder des Bundesrats hängig ist, befasste sich noch nicht mit dem Vorstoss [6]. Mit der Überweisung von zwei gleichlautenden Postulaten von Ständerat Gadient (svp, GR) und der SVP-Fraktion beauftragte das Parlament zudem den Bundesrat, einen Bericht über mögliche Reformen zur Verbesserung der Führungsstrukturen auf allen Ebenen der Bundesverwaltung vorzulegen [7].
Die Vorschläge von Rhinow und Petitpierre blieben aber nicht unwidersprochen. SVP-Präsident Uhlmann, welcher zuvor an einer Parteidelegiertenversammlung dem Bundesrat Handlungsschwäche vorgeworfen und von einer eigentlichen Führungskrise gesprochen hatte, kritisierte sie als zu weitgehend und lobte das System der siebenköpfigen Kollegialbehörde als kompakt und schlagkräftig. Erforderlich seien allerdings rasche Massnahmen zur Entlastung der Bundesräte von Unwesentlichem und die Schaffung von Staatssekretären für die Vertretung der Regierung auf internationaler Ebene [8].
Die sich namentlich im Zusammenhang mit der europäischen Integration ergebende Zunahme der internationalen Konferenzen und wohl auch die parlamentarischen Reformforderungen führten dazu, dass der Bundesrat seinen Widerstand gegenüber gewissen institutionellen Veränderungen abschwächte. Zwar ging er noch nicht so weit, eine Erhöhung der Zahl der Exekutivmitglieder ins Auge zu fassen. Aber im Sinne einer sofort wirksamen Massnahme beantragte er eine Änderung des Verwaltungsorganisationsgesetzes. Er möchte damit die Kompetenz erhalten, den Vorstehern von Gruppen und Amtern den Titel "Staatssekretär" zu verleihen. Dieser Titel wäre lediglich im Verkehr mit dem Ausland zu verwenden und könnte temporär auch anderen Amtsdirektoren und den Generalsekretären der Departemente, welche die Schweiz im Auftrag des Bundesrates an internationalen Konferenzen vertreten, zuerkannt werden. Zudem möchte der Bundesrat die Kompetenzen der Generalsekretäre erweitern. Diese sollen in Zukunft mehr Weisungsbefugnisse erhalten und den Departementschef im Ausland und in parlamentarischen Kommissionen vertreten dürfen [9]. Bereits zuvor hatte Bundesrat Ogi in der Presse den Wunsch nach zwei Staatssekretären in seinem Departement geäussert, welche auch bei internationalen Konferenzen als anerkannte Gesprächspartner von Ministern auftreten könnten [10].
Ein Entscheid über eine grundlegende Reform des Regierungssystems darf nach Ansicht des Bundesrates jedoch erst gefällt werden, wenn Klarheit über die zukünftige Stellung der Schweiz in den europäischen Institutionen herrscht. Nach der guten Aufnahme der Vorstösse Petitpierre und Rhinow im Parlament und dem bescheidenen Echo, das sein eigenes Paket mit Sofortmassnahmen ausgelöst hatte, gab der Bundesrat die Einsetzung einer Expertenkommission unter der Leitung des Staatsrechtlers Eichenberger bekannt. Diese soll das gesamte Regierungs- und Rechtssetzungssystem unter Berücksichtigung der neuen politischen Herausforderungen analysieren, die Landesregierung bei der Behandlung der parlamentarischen Vorstösse für eine Regierungs- und Verwaltungsreform beraten und Vorschläge für eine Weiterführung der organisatorischen Reformen machen [11].
 
[5] Zur Forderung der Jugendverbände nach einem Rücktritt des Gesamtbundesrats siehe unten, Teil I, 7d (Jugendliche).
[6] Amtl. Bull. StR, 1990, S. 657 ff.; Verhandl. B.vers., 1990, V, S. 56 (FDP) und 102 (Kühne). Siehe auch JdG, 14.3.90; NZZ, 21.3.90.
[7] Amtl. Bull. StR, 1990, S. 667 ff.; Amtl. Bull. NR, 1990, S. 1925 ff.
[8] TA und Blick, 26.2.90 (SVP-DV); SVP-Pressedienst, 1990, Nr. 13, S. 2 ff.
[9] BBl, 1990, 111, S. 645 ff.; Presse vom 25.9.90. Der BR entsprach damit auch einer Forderung des NR (vgl. SPJ 1985, S. 19, 1987, S. 28 und 1989, S. 31). Zu der von einigen Bundesräten gewünschten Flexiblisierung der Anstellungsbedingungen der Spitzenbeamten siehe unten (Verwaltung).
[10] Bilanz, 1990, Nr. 4, S. 79 ff. Das EDA und das EVD verfügen bereits über je einen Staatssekretär. Der StR überwies eine Motion des NR, welche verlangt, dass der Chef der neu gebildeten Gruppe für Wissenschaft und Forschung den Titel eines Staatssekretärs führen soll (Amtl. Bull. StR, 1990, S. 2 ff.; vgl. SPJ 1989, S. 31 und unten, Teil I, 8a, Hautes écoles).
[11] NZZ, 8.11.90.