Année politique Suisse 1990 : Politique sociale / Santé, assistance sociale, sport / Gesundheitspolitik
Es gibt erste Anzeichen dafür, dass die Schätzungen für die weitere Verbreitung von Aids zu hoch waren: im Berichtsjahr wurden 459 neue Krankheitsfälle registriert – 850 waren projiziert worden. Das Bundesamt für Gesundheitswesen (BAG) warnte aber, diese scheinbare Abflachung der Kurve dürfe nicht zu euphorischer Stimmung oder einem Nachlassen der Präventionsbemühungen verleiten, da allenfalls auch ein Meldeverzug oder fehlende Meldungen zu dieser Diskrepanz zwischen erwarteten und erfassten Fällen geführt haben könnten
[19].
Das
Bundesgericht fällte einen
Grundsatzentscheid, der nicht ohne Folgen für die Sozialversicherungen und den Arbeitsbereich bleiben dürfte. Das BAG und die Eidgenössische Fachkommission für Aids-Fragen hatten immer wieder betont, HIVSeropositivität sei wohl ein behandlungsbedürftiger Zustand, nicht aber eine eigentliche Krankheit. Der Kassationshof des Bundesgerichts bestätigte nun die Verurteilung eines, HIV-Positiven mit der Begründung, die Ubertragung des Aids-Virus auf einen ahnungslosen Intimpartner bedeute eine vorsätzliche schwere Körperverletzung und eine vorsätzliche Verbreitung einer gefährlichen übertragbaren menschlichen Krankheit (Art. 122 und 231 StGB)
[20].
Dieselbe Haltung nahm auch das Eidgenössische Versicherungsgericht ein, welches entschied, der Vorbehalt einer Krankenkasse gegenüber einer HIV-positiven Frau sei zulässig gewesen. Fachleute befürchteten, mit diesen beiden Urteilen werde der für die Betroffenen überaus schmerzlichen Ausgrenzung noch weiter Vorschub geleistet. Um zumindest die ver
sicherungsrechtliche Diskriminierung zu verhindern, reichte der Genfer SP-Nationalrat Longet eine Motion ein, die sicherstellen soll, dass HIV-positive Personen in der Krankenversicherung und der beruflichen Vorsorge nicht benachteiligt werden
[21].
Der Bundesrat beantragte dem Parlament, allen durch kontaminierte Blutpräparate mit dem HIV-Virus infizierten
Hämophilen oder Bluttransfusionsempfängern sei eine einmalige Leistung von 50 000 Fr. zu entrichten, unabhängig davon, ob die Krankheit bereits ausgebrochen ist oder nicht. Die Räte stimmten dieser Regelung zu, dehnten aber den Kreis der Anspruchsberechtigten auch auf den HIV-infizierten Ehepartner — nicht aber den infizierten Lebensgefährten — aus
[22].
Da der
Aids-Forschung kurzfristig der finanzielle Kollaps drohte, sprach der Bundesrat einen Zusatzkredit von 5 Mio Fr. und beschloss, für 1991 das Forschungsbudget ebenfalls um 5 auf 8 Mio Fr. zu erhöhen und die Aids-Forschung analog der Krebsforschung in seine Botschaft über die Förderung der wissenschaftlichen Forschung 1992 bis 1995 zu integrieren
[23]. Mit dem Argument der wissenschaftlichen Relevanz begründete Bundesrat Cotti auch die Teilnahme der Schweiz an der Internationalen Aids-Konferenz in San Francisco. Das BAG hatte vorgehabt, die Konferenz — gleich wie die EG-Länder — zu boykottieren, um so gegen die restriktive Einreisepolitik der USA gegenüber Aids-Kranken zu protestieren. Diesen Entscheid hatte das BAG allerdings ohne Rücksprache mit dem Departementsvorsteher getroffen; dieser zeigte sich erstaunt ob dem Vorgehen des BAG und betonte vor dem Nationalrat, dass in derartigen Fällen nur ihm allein die Entscheidungskompetenz zustehe. Wie weit dieser Vorfall zum Rücktritt von BAG-Direktor Beat Roos beitrug, wurde nicht publik
[24]..
Emotionsloser verlief der Internationale Kongress über Aids-Prävention, der anfangs November in Montreux (VD) stattfand. Die Fachleute aus aller Welt waren sich dabei einig, dass Evaluation ein wichtiger Bestandteil jeder Prävention sei und deshalb unbedingt zuverlässigere Daten über die Verbreitung der HIV-Infektion erhoben werden müssten. Das BAG möchte so im Einvernehmen mit der Verbindung der Schweizer Ärzte FMH die Bevölkerung mit
unverknüpfbaren anonymen Stichproben auf ihre Seropositivität testen lassen. In diesem Sinn reichte Nationalrat Günter (ldu, BE) eine Motion ein, welche die Durchführung anonymer HIV-Tests bei Rekruten verlangt
[25].
[20] Presse vom 3.7.90; TA, 19.7.90; "Strafbarkeit der vorsätzlichen Ansteckung mit dem HIV-Virus", in Zeitschrift für öffentliche Fürsorge, 87/1990, S. 157 ff. Für eine entgegengesetzte Auffassung, die bei einem Prozess vor einem Bezirksgericht im Kanton St. Gallen zum Zug kam, siehe Plädoyer, 1990, Nr. 5, S. 67 f.
[21] Presse vom 2.10.90; TA, 26.11.90. Motion Longet: Verhandl. B. vers., 1990, IV, S. 108.
[22] BBI, 1990, II, S. 225 ff. und III, S. 1781; Amtl. Bull. NR, 1990, S. 1585 ff. und 2497; Amtl. Bull. SIR, 1990, S. 922 ff. und 1102.
[23] Amtl. Bull. NR, 1990, S. 1272 f.; Presse vom 29.1.90; LNN, 2.2.90; Suisse, 16.2.90; Presse vom 20.3.90. Siehe auch SPJ 1989, S. 194.
[24] Amtl. Bull. NR, 1990, S. 316; JdG, 21.1. und 21.4.90; NZZ und Suisse, 3.3.90; SoZ, 17.6.90. Rücktritt Roos: BZ und TA, 9.7.90. An der Spitze des BAG wurde Roos durch Thomas Björn Zeltner ersetzt (BZ, 28.6.90).
[25] Konferenz von Montreux: Presse vom 30.10 und 2.11.90. Anonyme Stichproben: BaZ, 19.3.90; NZZ, 20.3.90. Motion Günter: Verhandl. B. vers., 1990, IV, S. 483; LNN und Suisse, 12.2.90.
Copyright 2014 by Année politique suisse
Ce texte a été scanné à partir de la version papier et peut par conséquent contenir des erreurs.