Année politique Suisse 1990 : Politique sociale / Assurances sociales
 
Grundsatzfragen
Das schweizerische Sozialversicherungswerk befindet sich in einer Phase tiefgreifenden Umbruchs. Die äusseren Anzeichen dafür sind mehrere hängige Volksinitiativen (AHV/IV, berufliche Vorsorge und Krankenkassen). Parallel dazu laufen vom Bund in die Wege geleitete Revisionsarbeiten in den Bereichen AHV, berufliche Vorsorge (BVG), Krankenversicherung, Militärversicherung und Arbeitslosenversicherung. Doch nicht nur Teilbereiche der Sozialversicherung werden in Frage gestellt. Selbst am Grundkonzept der Altersvorsorge, dem 3-Säulen-Prinzip und dessen Finanzierung über Lohnbestandteile, wird immer spürbarer gerüttelt [1].
Von den bürgerlichen Parteien äusserte sich nur die SVP zu grundsätzlichen Fragen. Unter dem Titel "Sozialstaat Schweiz" umschrieb sie ihre kurz- und mittelfristigen Zielsetzungen zur Sozialpolitik. Dabei mochte sie ihren Ständeräten, die im Vorjahr den bis anhin von der PdA propagierten Begriff einer "Volkspension" wieder ins Gespräch gebracht hatten, nicht folgen. Die Partei vertrat die Ansicht, der Ausbau der sozialen Sicherheit sei grundsätzlich abgeschlossen, und sie warnte vor unbedachten und fragwürdigen Experimenten. Sektoriellen und qualitativen Verbesserungen des Bestehenden wollte sie sich nicht verschliessen, doch legte sie grossen Wert auf den Grundsatz der Kostenneutralität und der Subsidiarität zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden [2] .
Anderer Ansicht waren die Sozialdemokraten und Gewerkschaften. Wie bereits 1989 angekündigt, lancierten SP und SGB eine gemeinsame Volksinitiative "zum Ausbau von AHV und IV". Grundidee dieses Volksbegehrens ist es, die Gewichte von der zweiten Säule (BVG) zur ersten Säule (AHV/IV) hin zu verschieben, ohne gleich zur Volkspension überzugehen. Die heute auf die Existenzsicherung ausgerichtete AHV soll für sich allein und ohne die berufliche Vorsorge den Hauptbeitrag zur wirtschaftlichen Unabhängigkeit auf der Basis der gewohnten Lebenshaltung leisten.
Die weiteren Schwerpunkte der Initiative sind: Aufstockung aller AHV/IV-Renten unter besonderer Berücksichtigung der niederen Einkommen, geschlechts- und zivilstandsunabhängige Renten, Erziehungs- und Betreuungsgutschriften sowie Rentenalter 62 für Frauen und Männer. Die zweite Säule würde um das reduziert, was der Ausbau der ersten erbringt. Ausdrücklich in der Verfassung verankern will die Initiative die Freizügigkeit beim Wechsel einer Pensionskasse.
Nach Auffassung der Initianten würden sich die Ausgaben für die erste Säule um 7,5 auf 29,9 Mia Fr. erhöhen. Bund und Kantone sollten davon 25 anstatt wie heute 20% übernehmen, und der gemeinsame Beitrag von Arbeitnehmern und Arbeitgebern würde sich um 1,6 auf 11,2 Lohnprozente erhöhen. Die Einsparungen bei der zweiten Säule wurden auf mindestens 2,3 Mia Fr. beziffert. Diese Zahlen wollten allerdings die Vertreter der Pensionskassen nicht gelten lassen, und sie sagten der Initiative schon vor deren Lancierung den Kampf an [3].
Gemäss den Ergebnissen einer Univox-Umfrage, scheint die Stimmung für das Anliegen der Initianten nicht ungünstig iu sein. So sprachen sich rund zwei Drittel der Befragten für einen AHV-Ausbau aus und nur gerade ein knappes Viertel dagegen. Unabhängig von Geschlecht, Alter, Lebensstandard, Sprachregion, Parteisympathie oder Wohngegend waren sich praktisch alle Befragten darin einig, dass die AHV-Renten nicht existenzsichernd sind [4].
Der Gedanke einer teilweisen Verlagerung von der zweiten zur ersten Säule ist auch für den Bundesrat nicht abwegig. Bereits im Mai beauftragte er fünf Experten, das in der Bundesverfassung verankerte Dreisäulenkonzept zu überprüfen. Neben Fragen der Finanzierung und Gewichtung von AHV/IV und BVG sollen auch die Möglichkeiten einer Einführung eines garantierten Mindesteinkommens (GME) und die Auswirkungen des europäischen Wirtschaftsraums (EWR) auf die schweizerischen Sozialversicherungen in die Überlegungen einbezogen werden [5]. In seiner Stellungnahme zu einem überwiesenen Postulat Günter (ldu, BE) versprach der Bundesrat, dem Parlament spätestens mit seiner Botschaft zur Revision des BVG einen Strategiebericht Sozialversicherung und Altersvorsorge vorzulegen, der explizit auf das Verhältnis zwischen der 1. und 2. Säule eingehen wird [6].
Nicht nur für eine Umlagerung, sondern für einen radikalen Kurswechsel in der Sozialpolitik plädierte die Grüne Partei. Vom Phänomen der neuen Armut ausgehend und mit dem Hinweis darauf, eine primär über Lohnprozente finanzierte soziale Absicherung entspreche nicht mehr den heutigen gesellschaftlichen Gegebenheiten mit ihrer hohen Rate von alleinerziehenden Müttern, ausgesteuerten Arbeitslosen und Menschen mit unterbrochener Berufslaufbahn, forderte sie die Einführung eines gesellschaftlich garantierten Mindesteinkommens (GME), welches das ungenügende und administrativ komplizierte Dreisäulensystem ablösen sollte. Finanzieren möchte sie das neue Modell über eine Besteuerung der gesamten Wirtschaftskraft, also beispielsweise auch über Umsatzsteuern oder ökologische Lenkungsabgaben [7]. Der Idee eines GME wurde von einer Univox-Umfrage wenig Rückhalt in der Bevölkerung bescheinigt: Nur gerade 22% der Befragten sprachen sich dafür aus. 62% lehnten sie ab und 17% hatten keine Meinung. Am ehesten fand sie noch Anklang in der Westschweiz (35%), bei den SP-Sympathisanten (33%) und den unter 40-jährigen (29%) [8].
Einen – wenn auch sehr wesentlichen – Teilaspekt des Sozialversicherungsrechts griff die PdA auf, indem sie eine Volksinitiative für die Gleichstellung der Geschlechter in den Sozialversicherungen lancierte [9] .
In Anbetracht der veränderten Verhältnisse in Europa wurde eine Ratifizierung der Europäischen Sozialcharta erneut in die Diskussion gebracht. Die Grüne Fraktion reichte eine entsprechende Motion ein. In Beantwortung einer Interpellation Pini (fdp, TI) erklärte der Bundesrat aber, im gegenwärtigen Zeitpunkt mehr an einem Abschluss der EWR-Verhandlungen interessiert zu sein, denn an einer Charta, welche die EG selber noch nicht unterzeichnet habe. Welche Auswirkungen ein EWR-Beitritt für die Sozialpolitik der Schweiz haben würde, ist offenbar auch dem Bundesrat noch nicht klar. In seinem Ende Jahr erschienen zweiten Integrationsbericht bemerkte er ziemlich ratlos, die finanziellen Kosten des EG-Rechts bei der sozialen Sicherheit könnten kaum beziffert werden, seien aber beträchtlich [10].
Durch eine 1989 als Postulat überwiesene Motion der GPK des Nationalrates dazu aufgefordert, legte der Bundesrat einen Bundesbeschluss betreffend die Sozialversicherungsansprüche der Schweizer der ehemaligen belgischen Kolonien Kongo und Ruanda-Urundi vor, welchem beide Räte einstimmig zustimmten. In Ermangelung eines gegenseitigen Abkommens beharrt Belgien darauf, die Rentenansprüche der ehemaligen Kongo-Schweizer auf dem Stand von 1960, dem Datum der Unabhängigkeit, einzufrieren. Die Angelegenheit war auch Gegenstand der schweizerisch-belgischen Gespräche anlässlich des Staatsbesuchs König Baudouins 1989 in der Schweiz, doch konnte selbst im persönlichen Kontakt keine Einigung erzielt werden. Durch die Annahme des Bundesbeschlusses kann nun den Betroffenen eine pauschale, einmalige Abfindung ausbezahlt werden; der dafür vorgesehene Verpflichtungskredit beträgt 25 Mio Fr. [11]..
 
[1] Bund, 7.5.90, TA, 9.5.90; SHZ, 10.5.90. Im Hinblick auf die hier anstehenden Probleme und die Anpassungen, die eine Annäherung an Europa mit sich bringen wird, wurde das BA für Sozialversicherung (BSV) einer gründlichen Reorganisation und Straffung unterzogen (ZAK, 1990, S. 169 ff.). Ein von NR Allenspach (fdp, ZH) eingereichtes Postulat ersucht den BR, die Gesamtkonzeption der sozialen Sicherheit zu überprüfen (Verhandl. B. vers., 1990, V, S. 66). Siehe dazu auch Lit. Allenspach.
[2] BaZ und NZZ, 28.2.90; siehe auch SPJ 1989, S. 204. Das starre Festhalten am Prinzip der Kostenneutralität stiess sogar in bürgerlichen Kreisen auf einiges Unverständnis. Mit dem Hinweis darauf, dass die Quote der Soziallast in der Schweiz, gemessen am Bruttoinlandprodukt, nur gerade 20% ausmacht und damit rund 60% unter dem Durchschnitt vergleichbarer Industrieländer des Westens liegt, wurden die Ausserungen der SVP als etwas voreilig kritisiert (SHZ, 8.3.90).
[3] BBl, 1990, I, S. 1740 ff.; Presse vom 13.1.90 (Bereinigung des Initiativtextes); Presse vom 9.5.90 (Haltung der Pensionskassen); Presse vom 30.4.90 (SP); Bund und TW, 15.5.90 (SGB); Presse vom 14.8.90 (Lancierung); siehe auch SPJ 1989, S. 204. Die PdA, die in der vorbereitenden Expertengruppe mitgearbeitet hatte, wurde aus dem Initiativkomitee wieder 'ausgeladen', da es, so der neue SP-Präsident Bodenmann, hier um die Profilierung einer politischen Bewegung gehe, und er den Eindruck habe, dass die PdA ohnehin von der Bildfläche verschwinden werde (WoZ, 3.8.90; VO, 9.8., 23.8. und 30.8.90).
[4] TA, 24.2.90.
[5] Gesch.ber. 1990, S. 19; Bund, 7.5.90; NZZ, 9.5.90; SHZ, 10.5.90; Suisse, 15.9.90.
[6] Amtl. Bull. NR, 1990, S. 708. Für eine aufgrund der neuen Arbeitsmarktbedingungen notwendige Neuorientierung der staatlichen Sozialwerke plädierte auch eine an der Universität St. Gallen erstellte Studie: siehe Lit. Ackermann; Presse vom 30.10.90.
[7] Presse vom 17.1.90. Mit einem Postulat will die Grüne Fraktion den BR auffordern, umgehend die Einführung des GME prüfen zu lassen (Verhandl. B.vers.,1990, IV, S. 56).
[8] TA, 30.10.90.
[9] BBI, 1990, III, S. 174.
[10] Verhandl. B. vers., 1990, IV, S. 56; Amtl. BulL NR, 1990, S. 911; Informationsbericht des Bundesrates über die Stellung der Schweiz im europäischen Integrationsprozess vom 26. November 1990, S. 37. Siehe auch SPJ 1984, S. 48, und 1987, S. 69 (Ablehnung der Europäischen Sozialcharta im Parlament).
[11] Amtl. Bull. NR, 1989, S. 885 ff.; BBI, 1990, 11, S. 1513 ff. und 111, 1776 ff.; Amtl. Bull NR, 1990, S. 2298 f. und 2497; Amtl. Bull. StR, 1990, S. 834 ff. und 1102. Siehe auch SPJ 1989, S. 70 und Presse vom 25.10. und 26.10.89 (Staatsbesuch des belgischen Königs).