Année politique Suisse 1990 : Politique sociale / Groupes sociaux / Ausländerpolitik
In kaum einem anderen Bereich wirft der
europäische Binnenmarkt bereits so lange Schatten wie in der Frage der Zulassungspolitik der ausländischen Arbeitskräfte. Dabei setzte sich die Erkenntnis durch, dass die EG in ihren Verhandlungen mit der EFTA Verständnis für die quantitative Stabilisierungspolitik der Schweiz – mit Luxemburg und Liechtenstein europaweit das Land mit dem höchsten Ausländeranteil – zeigen dürfte, dass sie aber unmissverständlich auf eine soziale und rechtliche Besserstellung ihrer Staatsangehörigen drängen wird. Insbesondere Spanien und Portugal werden sich voraussichtlich für eine Abschaffung des Saisonnierstatuts einsetzen. Von Bundesrat und Verwaltung war denn auch mehrfach zu hören, das Saisonnierstatut sei im Rahmen der EWR-Verhandlungen grundlegend zu überprüfen
[8]
.
Fachleute betonten, dass das Prinzip der
Freizügigkeit des Personenverkehrs innerhalb des EWR nicht zu einer Überschwemmung der Schweiz mit ausländischen Arbeitskräften führen werde. Kurzfristig, so wurde argumentiert, könne der Nachholbedarf in gewissen arbeitsintensiven Branchen, wie etwa dem Gesundheitswesen, der Hotellerie oder dem Baugewerbe, zu einem Anstieg der Immigration führen. Längerfristig werde die Schweizer Wirtschaft aber weniger unqualifizierte Kräfte brauchen, weshalb sich die Einwanderung aus geringer entwickelten Ländern in Grenzen halten dürfte und mehr mit einem – limitierten – Zustrom von technischen Spezialisten zu rechnen sei. Zudem werde die Umgestaltung der Ausländerpolitik dadurch erleichtert, dass sich das Migrationsverhalten in vielen Ländern Südeuropas verändert habe: Anstelle einer traditionellen Auswanderung sei heute eine Tendenz zur temporären Migration erkennbar
[9].
Ebenfalls im Hinblick auf einen möglichen Beitritt der Schweiz zum EWR oder zur EG
präsentierten die Sozialpartner — SGB, Vorort, Arbeitgeberorganisationen und Gewerbeverband —
gemeinsam ihre Vorstellungen von der künftigen Ausländerpolitik. Dabei stimmten sie in weiten Punkten überein. Aus staatspolitischen Gründen wollten sie an einer quantitativen Begrenzung der ausländischen Arbeitnehmer festhalten, doch sollten Niedergelassene aus dem EWR in den Genuss der vollen Freizügigkeit kommen und die Stellung der Jahresaufenthalter weitgehend an jene der Niedergelassenen angeglichen werden. Überdies müssten Erleichterungen bei der Einbürgerung geschaffen und die Doppelbürgerschaft zugelassen werden. Bedeutend weniger Einigkeit herrschte beim
Saisonnierstatut. Aus humanitären Gründen möchte es der SGB nur noch für Berggebiete zulassen, während es die Arbeitgeber grundsätzlich beibehalten wollen. Die Forderung des SGB nach einem Familiennachzug für Saisonniers und Kurzaufenthalter lehnten die Wirtschaftsverbände ab. Zudem wünschten sie, der heute geltende Umwandlungsanspruch einer Saison- in eine Jahresbewilligung sei abzuschaffen
[10].
Einem Teil der Gewerkschaften — insbesondere GBH, VPOD und CNG — ging der SGB-Vorschlag einer schrittweisen Reduktion des Saisonnierkontingents zu wenig weit. Sie setzten sich für die
völlige Abschaffung des Saisonnierstatuts ein
, welches ihrer Ansicht nach durch das Verbot des Familiennachzugs und der freien Wahl des Arbeitsplatzes gegen die europäische Menschenrechtskonvention verstösst. Ihre Anstrengungen kulminierten in einer grossen nationalen Kundgebung in Bern im September, an der 20 000 Personen teilnahmen, und in deren Vorfeld 800 Persönlichkeiten aus Kultur, Medizin, Recht und Politik einen Aufruf zur unverzüglichen Abschaffung des Saisonnierstatuts unterzeichneten. Im Parlament fand dieses Anliegen Unterstützung bei der Baselbieter Nationalrätin und "Mitenand"-Präsidentin Fankhauser (sp), die eine entsprechende Motion einreichte
[11].
Auf einen besonders schmerzlicher Aspekt des Saisonnierstatuts wurde eine breitere Öffentlichkeit aufmerksam, als bekannt wurde, dass Bundespräsident Koller jene Kantone — rund ein Dutzend, vor allem welsche — zur Ordnung rufen wollte, die illegal in der Schweiz lebende
Saisonnierkinder einschulen, ohne dies der Fremdenpolizei zu melden. Als sich jedoch die interkantonale Erziehungsdirektorenkonferenz hinter diese Praxis stellte, das Recht auf Bildung jedes Menschen betonte und sich weigerte, zum verlängerten Arm der Polizei zu werden, sah sich der Vorsteher des EJPD zum Einlenken gezwungen
[12].
Ein weiterer Punkt, auf den die Linke schon seit längerem hinweist, und der ebenfalls unter dem Druck des europäischen Binnenmarkts einer Lösung zugeführt werden dürfte, ist die
Diskriminierung gewisser Ausländerkategorien bei den Sozialversicherungen. Da das schweizerische Sozialversicherungsrecht beim Erbringen von Leistungen, mit Ausnahme der AHV, grundsätzlich vom Wohnsitzprinzip ausgeht, geraten Saisonniers und Grenzgänger in Gefahr, zwar Arbeitgeberbeiträge leisten zu müssen, später aber von den Leistungen ausgeschlossen zu werden. Besonders die
Grenzgänger wurden hier aktiv und verlangten die Einführung eines "Permis F", der ihnen — mit Ausnahme des Anspruchs auf Wohnsitznahme — dieselben Rechte wie den Niedergelassenen zugestehen sollte. Da die europäische Gemeinschaft die Situation der Wanderarbeitnehmer im Europaratabkommen über die soziale Sicherheit geregelt hat, wird auch hier Europa von der Schweiz voraussichtlich Konzessionen verlangen
[13].
[8] TA, 31.1. und 19.2.90; SZ, 5.5.90; BaZ, 19.7.90; Amtl. Bull. NR, 1990, S. 1692 (Koller). Der Geschäftsbericht des BR erwähnt denn bei den noch angestrebten Sonderlösungen und Übergangsperioden für einen eventuellen EWR-Beitritt auch nur die "quantitativen Aspekte der Ausländerpolitik" (Gesch.ber. 1990, S. 43). Auch die OECD empfahl der Schweiz, ihre Fremdarbeiterpolitik neu zu überdenken (Bund, 10.8.90).
[9] Lit. Straubhaar / Lüthi.; Presse vom 6.1.90 (Ausführungen von Biga-Direktor Hug); siehe auch SPJ 1989, S. 214 f. In der Bevölkerung scheint aber eine Lockerung der Beschränkungen für ausländische Arbeitnehmer nach wie vor Angste auszulösen. In einer Umfrage sprachen sich nur 32% für eine weitergehende Freizügigkeit aus, 44% waren dagegen und 18% konnten sich nicht entscheiden (SKA-Bulletin, 1990, Nr. IO, S. 8).
[10] Diskussion, Nr. 11, S. 26 ff. (Auszüge aus den Stellungnahmen); Presse vom 27.1.90.
[11] Diskussion, Nr. 11, S. 12 ff. (VPOD) und S. 15 f. (GBH); BaZ, 13.3.90 (CNG); TA, 6.9.90 (Aufruf); Presse vom 17.9.90 (Kundgebung); Verband/. B.vers., 1990, IV, S. 87 (Motion Fankhauser). In linken und kirchlichen Kreisen stiess die Ausländerregelung 1990/91 (AS, 1990, S. 1720 ff.), die eine Erhöhung des Saisonnierkontingents um rund 7000 Personen vorsieht, auf harsche Kritik (VPOD, 28.6.90; VHTL, 11.7.90: DP, 16.8.90; CdT, 5.9.90; Aktiv, 27.9.90; NZZ, 5.10. und 30.10.90; Presse vom 25.10.90).
[12] Schulstreit: NZZ, 27.9.90; LNN, 29.9.90; Bund, 27.11.90. Lebensbedingungen illegal eingereister Saisonnierkinder: Bund, 23.5.90; SN, 29.5.90; Vat, 21.6.90; BZ, 28.6.90; BaZ, 25.8.90; LNN, 4.9.90; WoZ, 14.9.90.
[13] Ch. Perret-Schiavi, "Die Sozialversicherung im Reisegepäck", Plädoyer, 1990, Nr. 1, S. 40 ff.; 24 Heures, 26.1.90; TA, 31.l.und 28.4.90; L'Hebdo, 1.2.90; BaZ, 2.2.und 19.7.90; Vat., 12.2.90; LNN, 24.10.und 17.11.90; CdT, 24.10.90; Suisse, 15.11.90. Ein Postulat der NR-Kommission für soziale Sicherheit wies darauf hin, dass im Bereich der Sozialversicherungen zwischenstaatliche Abkommen nicht genügen, um den Schutz der Arbeitnehmer zu gewährleisten (Verhandl. B. vers., 1990, V, S. 64).
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