Année politique Suisse 1990 : Politique sociale / Groupes sociaux / Flüchtlinge
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Spannungen zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden
Die dritte Asylgesetzrevision brachte für die Kantone kaum Neuerungen. Auf den im Vernehmlassungsentwurf noch enthaltenen und sowohl von den Hilfswerken wie von einer Mehrheit der Kantone befürworteten Systemwechsel von der erstinstanzlich kantonalen zu einer reinen Bundesbefragung wurde schliesslich verzichtet, da sich der DFW ausserstande sah, im Rahmen der personellen Möglichkeiten seines Amtes diese Aufgabe zu übernehmen. In Form einer Kompetenznorm im neuen Asylgesetz setzte sich im Gegenteil das bereits seit längerer Zeit von Genf propagierte Modell durch, wonach der Kanton nicht nur die Erstbefragung durchführt, sondern auch den Entscheid vorbereiten kann. Erste Abklärungen und Versuche in dieser Richtung erfolgten ab Oktober [29] .
Auf Wunsch der Kantone wurde im neuen Asylgesetz eine Bestimmung eingeführt, wonach der Bund inskünftig Unterkünfte erwerben oder vorfinanzieren kann, um so einen Beitrag zur Entschärfung der immer schwieriger werdenden Unterbringungssituation der Asylbewerber zu leisten [30] . Doch derartige Gesten konnten nicht verhindern, dass sich Ende Jahr die Zeichen des Unmuts aus den Kantone zu häufen begannen. Im Zürcher Kantonsparlament gab der kantonale Fürsorgedirektor zu verstehen, dass ihm das Zustandekommen einer Standesinitiative zur Kontingentierung der jährlichen Einreisezahlen von Asylbewerbern nicht ungelegen käme. Und der Freiburger Staatsrat forderte in einem Schreiben an den Bundesrat, Artikel 9 des Asylgesetzes, welcher das Notrecht vorsieht, müsse endlich angewendet werden, da die internationale Flüchtlingskonvention und das eidgenössische Asylgesetz keine tauglichen Instrumente mehr seien, um den heutigen Völkerverschiebungsproblemen gerecht zu werden [31] .
Die Ungeduld der Kantonsbehörden erklärt sich auch aus ihrer Befürchtung, dass sich immer mehr Gemeinden in Anlehnung an das aargauische Brittnau weigern könnten, Asylbewerber aufzunehmen. Obgleich das Bundesgericht in Beurteilung einer Beschwerde der Zürcher Gemeinde Richterswil klar das Vorhandensein von Rechtsgrundlagen bestätigte, die es einem Kanton erlauben, den Gemeinden Asylbewerber zwangsweise zuzuweisen, und auch Bundespräsident Koller in der Fragestunde der Wintersession noch einmal unterstrich, dass eine Verweigerung der Aufnahme von Asylsuchenden eindeutig rechtswidrig wäre, drohten einzelne Gemeinden oder ganze Gemeindeverbände, Bund und Kanton die Gefolgschaft aufzukündigen [32] .
 
[29] BBI, 1990, II, S. 573 ff.; Bund, 11.6.90; NZZ, 10.11.90; JdG, 22.11.90; L'Hebdo, 28.12.90; siehe auch SPJ 1989, S. 218.
[30] Mit der finanziellen Entlastung der Kantone bei der Beschaffung von Unterkünften übernahm der BR das Anliegen einer in der Sommersession überwiesenen Motion des Glarner SVP-NR Hösli (Amtl. Bull. NR, 1990, S. 1258).
[31] Zürich: TA, 11.12.90; Bund, 12.12.90. Freiburg: JdG, Lib. und NZZ, 28.12.90. Die Idee einer Kontingentierung wird auch von liberalen Kreisen vertreten: Opinion libérale, 1990, Nr. 26, S. 29 ff.; Amtl. Bull. NR, 1990, S. 1073 f. (überwiesenes Postulat Gros, GE).
[32] Siehe dazu SPJ 1989, S. 218. Bundesgericht: NZZ, 24.3., 26.3. und 18.4.90; Schweizerisches Zentralblatt für Staats- und Verwaltungsrecht, 91/1990, S. 347 ff. Haltung des BR: Amtl. Bull. NR, 1990, S. 2212 f. Drohungen von Gemeinden: Bund, 11.7. und 6.11.90; LNN, 1.8.90; AT, 25.10.90; Vr, 10.12.90 (Übersicht).