Année politique Suisse 1991 : Eléments du système politique / Problèmes politiques fondamentaux et conscience nationale / Grundsatzfragen
print
700-Jahr-Feier
Am 10. Januar fand in Bellinzona die Eröffnungszeremonie zur 700-Jahr-Feier statt. In seiner Ansprache äusserte sich Bundespräsident Flavio Cotti positiv zur Idee einer Zukunft der Schweiz in einem geeinten Europa und zur Wandlungsfähigkeit unserer politischen Institutionen. Gleichzeitig kündigte er ein Solidaritätsgeschenk für alte und behinderte Menschen im Betrag von 700 Fr. pro Person an und versprach, der Bundesrat werde sich dafür einsetzen, dass die Dritte Welt mit zusätzlichen 700 Mio Fr. unterstützt werde. Der Tessiner Architekt Mario Botta hatte für die Durchführung der Eröffnungsfeier ein eigens dafür konzipiertes Zelt im Castello Grande aufstellen lassen; dieses originelle Zelt wurde für sieben Schwerpunktfeiern in den verschiedenen Landesregionen weiterverwendet [6].
Frauenspezifische Projekte kamen unter anderem im Rahmen der Frauensession im Parlament zum Zuge; thematisiert wurden Fragen der geschlechtsspezifischen Machtausübung im Staat und die Diskrepanz zwischen juristischer und faktischer Gleichstellung. Unter dem Titel "Frauen öffnen die Schweiz" fanden mehrere Veranstaltungen statt, an denen die Themen Frauen und Okologie, Frauen und Ökonomie sowie Frauen und Ökumene in unserer Gesellschaft erörtert wurden. Ebenfalls im Rahmen der 700-Jahr-Feiern wurde am 15. September im Bundeshaus eine Jugendsession durchgeführt [7].
Die Bundesversammlung liess als Teil der Jubiläumsfeier Friedrich Dürrenmatts Theaterstück "Herkules und der Stall des Augias" im Nationalratssaal aufführen. Gemäss Ständeratspräsident Hänsenberger (fdp, BE) vermittelt das Stück die Einsicht, dass "aus dem Mist Humus wird und in einem kleinen Staat nur kleine Schritte zum Ziel führen und nicht grosse Helden". Die Aufführung war sehr umstritten, weil die Meinungen darüber, ob der inzwischen verstorbene Schriftsteller als Befürworter des "Kulturboykotts" die Aufführung seines Stücks im Rahmen der Jubiläumssession zugelassen hätte, auseinandergingen. Die in den Festreden geäusserten Bekenntnisse zu Solidarität und zu humanitärem Gedankengut stiessen in einem Teil der Öffentlichkeit auf heftige Kritik, als während den Festlichkeiten bekannt wurde, dass gleichentags fünfzehn als Asylbewerber abgewiesene Kurden von der Polizei verhaftet worden waren, um später des Landes verwiesen zu werden [8]. Im Bundeshaus selbst wurde zur historischen, staatskundlichen und politischen Information der Öffentlichkeit auch die Ausstellung "Expofédéral" durchgeführt [9].
Anfangs Mai wurde der "Weg der Schweiz", welcher auf einer Länge von 35 Kilometern vom Rütli bis nach Brunnen entlang dem Urnersee führt, offiziell eröffnet. Der Wanderweg war von den 26 Kantonen als Gemeinschaftswerk zur 700-Jahr-Feier gestaltet worden und sollte für die Wanderer eine Möglichkeit zum Kennenlernen der Vielfalt der Kantone bieten, aber auch einen Ort der Begegnung darstellen. Einige Kantone nutzten zudem die enge Zusammenarbeit mit den ansässigen Behörden der Urkantone zu intensiveren Kontakten. Auf Drängen der Stiftung "Weg der Schweiz" änderte der Kanton Jura sein ursprüngliches Projekt und stellte seinen Wunsch nach einem Kantonswechsel der bernisch gebliebenen Bezirke des Südjuras in einer Weise dar, welche von den Stiftungsräten schlussendlich genehmigt werden konnte [10].
Die Schwerpunktfeiern der Festtrilogie begannen mit dem "Fest der vier Kulturen", welches dezentral in den Kantonen der Westschweiz durchgeführt wurde; dabei kamen über 60 Veranstaltungen aus allen kulturellen Bereichen zum Tragen. In Lausanne bildeten beispielsweise die Ballettauffiihrungen "La Tour" von Maurice Béjart und "Fondue" von Heinz Spoerli einen Höhepunkt [11].
Das "Fest der Eidgenossenschaft" wurde im Juli in der Innerschweiz mit dem "Mythenspiel", welches inhaltliche, formale aber auch finanzpolitische Kritik erregte, eröffnet. Ein anderer Schwerpunkt war die "Arena Helvetica", welche in Form eines gross angelegten Umzugs die eidgenössische Wehrgeschichte darstellte. Das Programm des umstrittenen "Armeetages 91" in Emmen (LU) konnte restrukturiert werden, nachdem in einer ersten Planungsphase der vorgesehene Bau eines speziellen Autobahnanschlusses zur Durchführung eines Defilees und einer Armeeschau starke Kritik in der Öffentlichkeit hervorgerufen hatte. Schlussendlich wurden zwei kürzere sogenannte Vorbeimärsche mit je 3000 Soldaten und 470 Fahrzeugen in den Mittelpunkt der vielfältigen Darstellungen gestellt [12].
Im Rahmen der Veranstaltungen "Fest der Solidarität" im Kanton Graubünden wurden verschiedene Austauschprogramme von Jugendlichen einzelner Berufsgruppen, so z.B. auch der Bauern, durchgeführt. Fragen zum Verhältnis der ersten zur Dritten Welt standen am Symposium "Wem gehört die Welt?" im Vordergrund; ein offener Geist ("Spiert aviert") sowie die Bereitschaft zur Mitgestaltung der Zukunft Europas waren am europäischen Jugendtreffen im Engadin gefragt [13].
Zahlreiche Aktivitäten im Ausland, wie zum Beispiel die Ausstellung "Switzerland 700" in London, entstanden aus der Zusammenarbeit der schweizerischen diplomatischen Vertretungen und den entsprechenden ausländischen Behörden sowie der Privatwirtschaft [14].
Eine von Geschichtsprofessor Altermatt, welcher der vom Bundesrat eingesetzten "groupe de réflexion" angehörte, durchgeführte Zwischenbilanz Ende Juli glaubte einen Graben zwischen den Intellektuellen und dem Volk zu erkennen. Die vorwiegend kritische Meinung zu den Festlichkeiten unter den Intellektuellen, Kultur- und Medienschaffenden kontrastiere stark zur Haltung der übrigen Bevölkerungsgruppen. Im übrigen sei die Festbereitschaft in der Westschweiz wie erwartet grösser als in der Deutschschweiz [15].
Den Abschluss der Feierlichkeiten bildete ein Symposium in Lugano unter dem Titel "Die Schweiz an der Schwelle zum nächsten Jahrhundert", in welchem die Zukunftsdiskussionen von fünf Arbeitsgruppen im Plenum präsentiert wurden. Dabei fielen vor allem die beiden radikalen Umbruchsthesen von Christian Lutz, Leiter des Gottlieb Duttweiler Instituts (GDI), und von Giuseppe Rusconi, einem Tessiner Bundeshausjournalisten, auf. An der, Schlusszeremonie in Basel forderte Bundesrat Felber die Bevölkerung auf, nach den vielfältigen Überlegungen zur Zukunft der Schweiz die Annäherung an Europa in Form eines EWR-Vertrages zu wagen [16].
Gesamthaft fanden auf eidgenössischer, kantonaler und kommunaler Ebene über 3000 Veranstaltungen im Rahmen der Jubiläumsfeiern statt, welche auf eine unterschiedliche Resonanz stiessen; tendenziell entkrampfte sich das Verhältnis der Bevölkerung zum eigenen Fest im Verlaufe des Jahres auch in der Deutschschweiz. Zahlreiche Projekte und Anlässe sollen auch nach dem Jubiläumsjahr weitergeführt resp. wiederholt werden [17].
In der Stadt Bern fanden von Juni bis September verschiedene Festanlässe zum 800jährigen Bestehen Berns (BE 800) statt. Höhepunkt war ein Festumzug im September, an dem über 3200 Figuranten und 55 Umzugswagen teilnahmen [18].
 
[6] Presse vom 10. und 11. 1.91; Ww und L'Hebdo, 17.1.91; WoZ, 18.1.91. Zur Jubiläumszulage siehe auch unten Teil I, 7c (Alters- und Hinterbliebenenversicherung). Zum Botta-Zelt siehe auch L'Hebdo, 10.1.91.
[7] Presse vom 8.2. und 9.2.91 (Frauensession). NZZ, 4.3.91; Bund, 11.3.91 (Frauen öffnen die Schweiz). Presse vom 26.9.91 (Jugendsession). Zu den Jubiläumssessionen siehe Amtl. Bull., 1991, Jubiläumssessionen. Siehe auch unten Teil I, 7d (Stellung der Frau, Jugendliche).
[8] NZZ, 22.3.91; BaZ, 3.4.91; Presse vom 3.5.91. Zu Dürrenmatt: WoZ, 12.4.91. Zu den Kurden siehe unten, Teil I, 7d (Flüchtlinge).
[9] Info 700, Nr. 3, 1991; NZZ, 25.6.91. Die Parlamentsdienste gaben im Auftrag der Bundesversammlung als Geschenk zur 700-Jahr-Feier eine Festschrift mit dem Titel Das Parlament - Oberste Gewalt des Bundes? heraus; siehe dazu unten, Teil I, 1 c (Weiterführende Literatur).
[10] TA und SN, 4.5.91; NZZ, 6.5.91; L'Hebdo., 18.7.91. Zu den Kontakten mit Kantonen vgl. JdG, 10.10.91. Jura: Dém., 17.1. und 8.5.91.
[11] 24 Heures und TA, 19.6.91. Siehe auch die Sondernummer des L'Hebdo, spécial 700è, 4.1.91.
[12] Presse vom 22.7.91; Info 700, Nr. 6, 1991. Zu Arena Helvetica: Vat. und NZZ, 2.9.91. Zum Armeetag 91: BZ, 1.3.91; LNN, 6.9.91; LNN und NZZ, 23.6.91.
[13] BüZ, 21.8.91. Zu "Spiert aviert": BüZ und TA, 5.9.91.
[14] Bund, 4.5.91. Zu den Anlässen in Grossbritannien: Info 700, Nr. I0, 1991. Zu den Aktivitäten in den USA bzw. in Australien siehe SN, 11.5. bzw. 5.6.91. Ein kritischer Beitrag zur 700-Jahr-Feier und zur Identitätskrise der Schweiz in der ausländischen Presse findet sich in Belvédère (Revue européenne du groupe Express), no 2, juillet 1991. Übersicht zu Berichten der ausländischen Presse über die 700-Jahr-Feier: NZZ, 6.8.91; BZ, 7.8.91; TA, 9.8.91.
[15] AT, 30.7.91. Vgl. auch NZZ, 3.8.91 (zur Entstehung der 700-Jahr-Feier).
[16] NZZ, 1.11.91; Ww, 7.1 1.91. Zur Schlusszeremonie: Presse vom 18.11.91.
[17] LNN, 18.11.91; Info 700, Nr. 11, 1991. Siehe auch SPJ 1989, S. 17 ff. und 1990, S. 18 f.
[18] Presse vom 9.9.91.