Année politique Suisse 1991 : Eléments du système politique / Problèmes politiques fondamentaux et conscience nationale / Grundsatzfragen
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Zukunftsperspektiven
Die vom Bundesrat eingesetzte Expertenkommission "Schweiz morgen" präsentierte nach zweijähriger Arbeit ihren Schlussbericht [21]. Darin entwarf sie in vier Szenarien, unter besonderer Berücksichtigung der Aspekte der Lebensqualität, mögliche Entwicklungen der Schweiz in wirtschaftlich-sozialer, kultureller und politischer Hinsicht nach dem Jahre 2000. Die 16köpfige Kommission unter der Leitung von Christian Lutz, Leiter des Gottlieb-Duttweiler-Instituts (GDI) in Rüschlikon und Präsident der schweizerischen Gesellschaft für Zukunftsforschung, umfasste Wissenschaftler aus verschiedenen Fachbereichen, Unternehmer, Journalisten und eine Vertreterin aus der Bundesverwaltung. In sieben Themenbereichen hatte die Kommission mögliche Grundhaltungen in bezug auf die Rolle der Schweiz in einer Welt im Umbruch, die institutionelle Entwicklung, die Umwelt- und Raumpolitik, die Sozialpolitik, die Wirtschaft, den kulturellen Wandel und die individuellen Lebensformen skizziert. Die verschiedenen Handlungsoptionen wurden in der Folge als Bausteine unterschiedlicher Gesamtszenarien verwendet.
Ein erstes Szenarium geht von einem Status quo aus, der einen kurzsichtigen, punktuellen Pragmatismus beinhaltet und für die Schweiz, gemäss der Kommission, kein sinnvolles Konzept darstellt. Ein zweites Szenarium mit der Devise "Mehr Leistung und Wettbewerb in Wirtschaft und Gesellschaft" hat persönliche Freiheit, individuelle Selbstverwirklichung und private Initiative als höchste Werte zum Ziel, würde aber gleichzeitig eine abnehmende Solidarität in der Gesellschaft, kulturelle Verarmung, eine extrem materialistische Haltung sowie einen Abbau der direkten Demokratie und des Föderalismus bewirken. Das dritte, dem die Sympathie der Kommission galt, hat eine idealistische Ausrichtung, deren Zielorientierung eine umwelt- und sozialverträgliche, basisorientierte und beschauliche Schweiz ist. Das vierte Szenario trägt hedonistische Züge mit dem Motto: Alle sollen sich ein schönes Leben machen können.
Neben der Entwicklung der Szenarien und der Beschreibung von deren möglichen politisch-sozialen und wirtschaftlich-kulturellen Implikationen erarbeitete die Kommission sowohl abstrakte als auch konkrete Leitideen für jene Bereiche, in denen sie einen starken Handlungsbedarf erkannte: Dazu gehört als wichtigstes Element eine aktive Rolle der Schweiz in einem demokratisch legitimierten Europa der Regionen, was einen EG-Beitritt bis zum Jahr 2000 erfordern würde, sowie ein stärkeres Engagement der Schweiz bei der Lösung internationaler Probleme, wozu ein Beitritt zu UNO, IWF und Weltbank empfohlen wird. Gemäss der Kommission braucht die Schweiz eine Reform der politischen Strukturen, womit unter anderem die Stärkung der parlamentarischen Demokratie gemeint ist, eine Ökologisierung der Wirtschaft, mehr Wettbewerb, eine Neuordnung des sozialen Ausgleichs mit einem Mindesteinkommen für alle und mehr Chancengleichheit von Mann und Frau in der Gesellschaft. Der Bericht sollte unter anderem dem Bundesrat als Basis für die Regierungsrichtlinien der kommenden Legislaturen dienen [22].
Gegen den Willen der Regierung überwies der Ständerat Rhinows (fdp, BL) Postulat "Leitbild Schweiz". Darin wird der innere Zustand des Landes als desolat sowie ohne gemeinsame Sprache bezeichnet und ein neuzeitlicher Entwurf einer der Zukunft gewachsenen Schweiz gefordert [23].
Die Kommission für soziale Fragen des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes (SEK) publizierte unter dem Titel "Eine neue Schweiz im neuen Europa" zehn Thesen als Beitrag zum Jubiläumsjahr. Die Autoren lehnen darin ein selbstzufriedenes schweizerisches Sonderfalldenken ab und plädieren für ein Bemühen, international auf moralischer Ebene vorbildlich zu sein. Eine moralisch integre Politik beinhalte auch den Respekt vor der Schöpfung, welche höher gewertet werden sollte als die Wohlstandsmehrung. Die Reformen in Richtung einer weltweiten Friedensordnung, vermehrter Solidarität im Nord-Süd-Konflikt und mehr demokratischer Mitbestimmung im politisch-sozialen Leben würden jedoch gemäss den Autoren eine Totalrevision der Bundesverfassung voraussetzen [24].
 
[21] Siehe SPJ 1989, S. 15.
[22] Presse vom 3.7.91. Siehe auch Lit. Schweiz morgen und Linder / Ballmer.
[23] Amtl. Bull. StR, 1991, S. 20 ff.; BaZ, 25.1.91.
[24] NZZ, 27.7.91; siehe auch Lit. Kommission für soziale Fragen des SEK.