Année politique Suisse 1991 : Eléments du système politique / Institutions et droits populaires
Regierung
Die 1990 vom Bundesrat vorgelegten
Entlastungsvorschläge fanden im Parlament ohne Begeisterung Zustimmung. Im Ständerat wurde von mehreren Rednern betont, dass dies keine echte Reform sei; im Nationalrat wurde auf Wortmeldungen verzichtet. Damit akzeptierte das Parlament die Kompetenzerweiterung für die Generalsekretäre der Departemente. Es erteilte dem Bundesrat ferner die Erlaubnis, Leitern von Gruppen und Ämtern den Titel Staatssekretär zu verleihen, und zwar nicht nur wie von der Regierung vorgeschlagen, für den Verkehr mit dem Ausland, sondern auch im Inland. Anderen Direktoren und Generalsekretären soll dieser Titel für die Dauer der Beteiligung an internationalen Verhandlungen temporär zugesprochen werden können
[4].
Der Nationalrat überwies die im Vorjahr von
Petitpierre (fdp, GE) und Ständerat
Rhinow (fdp, BL) formulierte und von der freisinnigen Fraktion eingereichte
Motion für eine Regierungsreform. Gleichzeitig stimmte er einer Motion Kühne (cvp, SG) zu, welche eine Erhöhung der Anzahl der Bundesratsmitglieder und eine Verstärkung der Führungs- und Koordinationskompetenzen des Bundespräsidenten verlangt. Der Bundesrat empfahl die Umwandlung in Postulate und sprach sich namentlich gegen eine Heraufsetzung der Zahl der Bundesräte aus. Er zeigte sich weiterhin davon überzeugt, dass im heutigen Zeitpunkt auf eine grundlegende Regierungsreform oder auch nur auf die Vergrösserung des Bundesrates verzichtet werden kann. Insbesondere mit der von ihm vorgeschlagenen Aufwertung der Generalsekretariate der Departemente und dem Einsatz von Titularstaatssekretären für internationale Verhandlungen würden die Voraussetzungen für eine effiziente Regierungstätigkeit wesentlich verbessert. Mit diesen Argumenten vermochte er freilich nicht zu überzeugen. Gegen die Überweisung in Motionsform sprach sich lediglich die SVP-Fraktion aus, welche für eine Konzentration auf die Reform der departementalen Führungs- und Organisationsstrukturen plädierte
[5].
Der Ständerat, welcher bereits im Vorjahr eine zur Motion Petitpierre analoge parlamentarische Initiative Rhinow gutgeheissen hatte, überwies die beiden vom Nationalrat verabschiedeten Motionen ebenfalls, wobei er die Einschränkung formulierte, dass er die Motion Kühne für eine Heraufsetzung der Zahl der Bundesratsmitglieder nicht als imperatives Mandat ansehe
[6].
Der Bundesrat hatte freilich bereits vor der Debatte im Nationalrat reagiert, indem er Ende 1990 eine
Expertenkommission mit der Überprüfung des Regierungssystems und der
Ausarbeitung von Szenarien und Modellen beauftragt hatte. Dies bewog die Ständeratskommission, welche die Weiterbehandlung der parlamentarischen Initiative Rhinow zur Regierungsreform übernommen hatte — die Kommission des Nationalrates konzentrierte sich auf die Parlamentsreform — die Federführung an den Bundesrat abzutreten. Die Experten präsentierten dem Bundesrat im Herbst ihren Zwischenbericht. Im wesentlichen beschreiben sie darin fünf Varianten: 1) Entlastung des Bundesrates durch die Einsetzung von Departementsdirektoren; 2) Erhöhung der Zahl der Bundesräte auf 9 oder 11 mit gleichzeitiger Stärkung der Position des Bundespräsidenten; 3) zweigliedrige Exekutive mit einem kleinen Regierungskollegium und zusätzlichen Fachministern; 4) parlamentarisches Regierungssystem; 5) präsidiales Regierungssystem
[7]. In einer ersten Stellungnahme beschloss der Bundesrat, dass die Experten prioritär eine Kombination der Varianten eins und drei sowie die Variante zwei weiterverfolgen sollen. Ein grundlegender Systemwechsel, wie sie der Wechsel zu einem parlamentarischen oder einem präsidialen System darstellen würde, scheint ihm hingegen angesichts der gesellschaftlichen und politischen Traditionen der Schweiz nicht sinnvoll zu sein
[8].
In schöner Regelmässigkeit wird in der Schweiz, vorzugsweise vor Bundesratswahlen, die Zweckmässigkeit der Fortführung der
sogenannten Zauberformel, d.h. der seit 1959 unveränderten parteipolitischen Zusammensetzung des Bundesrates zur Diskussion gestellt. Dieses Jahr wurde die Debatte vom Tessiner Nationalrat Cotti (cvp) lanciert. Er regte an, dass die neugewählte Bundesversammlung sich vor der Bundesratswahl im Dezember zu einer ausserordentlichen Session treffen sollte, um über ein
verbindliches
Regierungsprogramm zu beraten. Die Regierungsbeteiligung der Parteien sollte von der Zustimmung zu diesem Programm abhängig gemacht werden. Die SP setzte sich sofort vehement gegen diesen Vorschlag zur Wehr. Sie kritisierte ihn als Manöver, um die SP entweder auf bürgerliche Positionen zu verpflichten oder aus der Regierung zu drängen. Aber auch die Parteipräsidenten Steinegger (fdp) und Segmüller (cvp) zeigten keine Begeisterung für diese Idee. Die vier Regierungsparteien beschlossen immerhin, nach den Parlamentswahlen im November die Weiterführung der Zauberformel und die zukünftige Regierungspolitik gemeinsam zu diskutieren
[9].
Als nächster belebte SVP-Generalsekretär Friedli die Debatte mit dem Aufruf, nicht die Zauberformel, sondern die personelle Besetzung des Bundesrates zu überprüfen. Er machte die Unentschlossenheit der Regierung zumindest mitverantwortlich für das mässige bis schlechte Abschneiden der Regierungsparteien bei den Parlamentswahlen
[10].
In ihrem ersten gemeinsamen Gespräch im November kamen die Spitzen der Regierungsparteien überein, die parteipolitische Zusammensetzung des Bundesrates nicht anzutasten. Sie beschlossen, die Differenzen und Gemeinsamkeiten zu verschiedenen wichtigen Themen zu diskutieren, ohne aber den Versuch zu unternehmen, sich auf ein gemeinsames Regierungsprogramm zu verpflichten. In weiteren Sitzungen einigte man sich darauf, auch die personelle Zusammensetzung des Bundesrates nicht zu verändern
[11].
Die neukonstituierte Bundesversammlung trat am 4. Dezember zur
Wahl der Mitglieder des Bundesrates für die Amtsdauer 1991-1995 zusammen. Die grüne Fraktion hielt als einzige an der Forderung nach einem gemeinsamen Regierungsprogramm fest und verlangte die Verschiebung der Wahl bis zum Vorliegen eines solchen Programmes, was jedoch mit 203:29 Stimmen abgelehnt wurde. Kaum grossen Einfluss auf das Wahlergebnis hatte die Empfehlung der Auto-Partei, die SP aus der Regierung zu werfen und Koller und Cotti durch andere CVP-Vertreter zu ersetzen. Der Sozialdemokrat Stich, welcher als Amtsältester zuerst antreten musste, schnitt mit 145 Stimmen zwar um 40 Stimmen schlechter ab als vor vier Jahren, schaffte aber das absolute Mehr von 114 Stimmen problemlos. Auch der zweite Sozialdemokrat, Felber, erzielte mit 144 Stimmen ein achtbares Resultat und blieb nur knapp hinter Ogi (151 Stimmen) zurück. Mehr Mühe bekundeten die Vertreter der CVP: Cotti erhielt 135, Koller sogar nur 132 Stimmen. Der am Schluss an die Reihe kommende Freisinnige Villiger musste für diese offensichtlich mangelnde Solidarität im Lager der bürgerlichen Regierungsparteien büssen: lediglich 127 der anwesenden 238 Abgeordneten gaben ihm ihre Stimme. Sein Parteikollege Delamuraz, der noch vor der Wahl der beiden CVP-Vertreter antreten durfte, hatte mit 172 Stimmen das beste Resulat aller Kandidaten erzielt. Mitverantwortlich für dieses Spitzenergebnis war sicher auch die Solidaritätswelle, welcher sich Delamuraz erfreuen durfte, nachdem die Zeitung "Blick" das Gerücht kolportiert hatte, dass seine — und Felbers — Trinkgewohnheiten anlässlich der Gespräche der Regierungsparteien kritisiert worden seien
[12].
Damit hatten zwar alle bisherigen Bundesräte die Wiederwahl geschafft, ihre Stimmenzahlen waren aber deutlich unter denjenigen früherer Bestätigungswahlen zurückgeblieben. Diese Einbussen von 20 (Delamuraz) bis 70 (Cotti) Stimmen gegenüber 1987 sind zu gross, als dass sie sich allein mit dem Erstarken der Nichtregierungsparteien erklären liessen. Mitgespielt haben mag auch eine gewisse Verärgerung innerhalb der Regierungsparteien über das Auftreten des Bundesrates im Wahljahr. So wurde ihm vorgeworfen, durch sein unentschlossenes und führungsschwaches Handeln den Wahlerfolg der populistischen Rechtsparteien begünstigt zu haben. Immerhin waren die Verluste relativ gleichmässig verteilt: die Differenz von 45 Stimmen zwischen dem besten und dem schlechtesten Ergebnis war zwar etwas grösser als 1987 (39), blieb aber deutlich unter den Spitzenwerten von 1971 (106) und 1979 (90)
[13].
Zum
Bundespräsidenten für 1992 wurde turnusgemäss René Felber und zum Vizepräsidenten Adolf Ogi mit 158 resp. 163 Stimmen gewählt
[14].
[4] Amtl. Bull. StR, 1991, S. 473 ff. und 921; Amtl. Bull. NR, 1991, S. 1615 und 2038; BBl, 1991, III, S. 1383 f. Vgl. SPJ 1990, S. 36 f.
[5] Amtl. Bull. NR, 1991, S. 169 ff.; Presse vom 25.1.91. Vgl. SPJ 1990, S. 36.
[6] Amtl. Bull. StR, 1991, S. 525 f.
[7] Gesch.ber. 1991, 1. Teil, S. 29 f.; NZZ, 21.10.91. Siehe SPJ 1990, S. 37. Vgl. auch R. Rhinow, "Anforderungen an ein neues Regierungssystem", in NZZ, 20.12.91. StR-Kommission: Amtl. Bull. StR, 1991, S. 473. Die Expertenkommission umfasste ursprünglich die Professoren Eichenberger, Borghi und Pümpin und wurde am 1.7. um alt Bundeskanzler Buser erweitert.
[9] TA, 19.8.91; CdT, 23.8.91; Presse vom 31.8.91. Vgl. auch SPJ 1989, S. 30; TA, 7.11.91; SGT, 9.11.91.
[10] BZ, 31.10.91. Zu den Parlamentswahlen siehe unten, Teil I, 1e (Eidgenössische Wahlen).
[11] Presse vom 9.11.91 (Formel und Programm); TA, 14.11.91 (Personen); NZZ, 25.11., 29.11. und 10.12.91 (weitere Gespräche zu Politikbereichen). Vgl. auch LZ, 3.12.91.
[12] Amtl. Bull. NR, 1991, S. 2541 ff.; Presse vom 5.12.91. Alkoholkonsum: Blick, 29.11. und 30.11.91; LM, NQ, SGT, Suisse und 24 Heures, 30.11.91. Vgl. auch die Replik von NR Blocher (svp, ZH) auf den Vorwurf, dieses Thema aufs Tapet gebracht zu haben (Amtl. Bull. NR, 1991, S. 2542 f. und 24 Heures, 5.12.91).
[13] Zur Kritik am BR vgl. etwa Ch. Kauter in Freisinn FDP, 1991, Nr. 11, S. 10 f. und M. Friedli in SVP ja, 1991, Nr. 11/12, S. 8 und in BZ, 31.10.91.
[14] Amtl. Bull. NR, 1991, S. 2547. Zu Bundespräsident Felber siehe auch SGT, 5.12.91; NZZ, 30.12.91.
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