Année politique Suisse 1991 : Politique sociale / Santé, assistance sociale, sport / Fürsorge
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Opfer von Gewaltverbrechen
Zum Abschluss der Jubiläumssitzung im Januar behandelte die grosse Kammer als Erstrat das Bundesgesetz über die Hilfe an Opfer von Straftaten (Opferhilfegesetz OHG). Bei dessen Präsentation sprach die Präsidentin der vorberatenden Kommission, die Luzerner CVP-Abgeordnete Stamm, von einem "historischen Moment für das schweizerische Strafrecht". Erstmals werde bei einer Strafverfahrensordnung nicht nur dem Täter, sondern auch dem Opfer Beachtung geschenkt. Sie erinnerte daran, dass das nun vorliegende Gesetz auf einen Volksauftrag aus dem Jahre 1984 zurückgeht. Damals unterstützten alle Stände und eine überwältigende Mehrheit von 84% der Stimmenden die Schaffung eines neuen Artikels 64ter der Bundesverfassung, welcher den Bund und die Kantone beauftragt, dafür zu sorgen, dass Opfer von Straftaten gegen Leib und Leben Hilfe erhalten.
Entgegen dem Antrag einer bürgerlichen Kommissionsminderheit hielt der Rat daran fest, die Rechte des Opfers im Strafverfahren gesamtschweizerisch zu regeln, in diesem speziellen Fall also vom Grundsatz der strafprozessrechtlichen Kompetenzen der Kantone abzuweichen. Der Anspruch des Opfers auf Begleitung durch eine Vertrauensperson sowie die Möglichkeit, die Aussagen über Fragen der Intimsphäre zu verweigern, blieben ebenfalls im Gesetz. Opfer von sexuellen Straftaten sollen zudem das Recht haben zu verlangen, dass wenigstens eine Person ihres Geschlechts dem urteilenden Gericht angehört. Der entsprechende Artikel fand mit 71:70 Stimmen allerdings nur ganz knapp Zustimmung.
Die kleine Kammer folgte dem Nationalrat in den wesentlichen Punkten. Im Sinn von mehr Kantonshoheit beschloss sie aber, statt einer eidgenössischen Rekurskommission kantonale Beschwerdeinstanzen einzusetzen und den Kantonen die ganzen Betriebskosten für die Beratungsstellen zu überbürden. Der Nationalrat bereinigte die Differenzen im Sinn des Ständerates, so dass das Gesetz in der Herbstsession definitiv verabschiedet werden konnte [58].
Da der Nationalrat im OHG die Bestimmung eingeführt hatte, dass auf Antrag des Opfers ein gleichgeschlechtlicher Richter zu amten hat, wurde eine Motion Bär, welche dies in jedem Fall zwingend festschreiben wollte, nur als Postulat angenommen [59].
Diskussionslos stimmten beide Räte dem Europäischen Übereinkommen über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten zu, welches eine Harmonisierung der diesbezüglichen Rechtsgrundlagen in ganz Europa zum Ziel hat [60].
In der Stadt Zürich erhalten Opfer von Sexualdelikten bereits vor Inkrafttreten des OHG juristische, medizinische und psychotherapeutische Hilfe. Für das in der Schweiz einzigartige, vorläufig auf zwei Jahre befristete Pilotprojekt mit Kosten von vier Mio Fr. wurde Mitte Oktober beim Zürcher Sozialamt eine "Kontaktstelle Opferhilfe" in Betrieb genommen. Die Hilfeleistungen, die ohne grosse Bürokratie angeboten werden, sollen ausdrücklieh auch bei Vergewaltigung in der Ehe gewährt werden [61].
Für weitere Hilfsmassnahmen zugunsten der Opfer sexueller Gewalt siehe unten, Teil I, 7d (Frauen, Kinder).
 
[58] Amtl. Bull. NR, 1991, S. 8 ff., 1278 und 2036 f.; Amtl. Bull. StR, S. 582 f. und 921; BBl, 1991, III, S. 1462 ff. Siehe auch SPJ 1990, S. 214 f.
[59] Amtl. Bull. NR, 1991, S. 1330 f.
[60] Amtl. Bull. NR, 1991, S. 25 und 2036; Amtl. Bull. StR, 1991, S. 589 f. und 912.
[61] Presse vom 15.11.91.