Année politique Suisse 1991 : Politique sociale / Groupes sociaux / Ausländerpolitik
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Bericht zur Ausländer- und Flüchtlingspolitik
Im Mai stellte der Bundesrat einen neuen Bericht zur Ausländer- und Flüchtlingspolitik vor. Anders als der Strategiebericht zwei Jahre zuvor entstand dieser nicht mehr unter Federführung des Bundesamtes für Flüchtlinge (BFF), sondern unter jener des Biga. Im Vordergrund stehen denn auch mehr arbeitsmarktorientierte Fragestellungen. Hauptpunkt der mittelfristigen Ausländer- und Asylpolitik sei es, so führte Bundesrat Koller an der Pressekonferenz aus, eine EWR-konforme Ausländerpolitik zu definieren. Nach dem Willen des Bundesrat soll inskünftig ein Drei-Kreise-Modell zum Zug kommen. Der innere Kreis umfasst die EG- und Efta-Staaten. Deren Bürger sollen schrittweise keinen ausländer- oder beschäftigungspolitischen Beschränkungen mehr unterliegen, sowie dies ab 1993 auch im Rahmen des geplanten EWR vorgesehen ist.
Im zweiten Kreis des Modells befinden sich einerseits die traditionellen Rekrutierungsländer ausserhalb des EG- und Efta-Raumes, in denen bisher weniger qualifizierte Arbeitskräfte angeworben wurden. Konkret war damit Jugoslawien gemeint. Bürger dieser Staaten sollen nur noch als Saisonniers oder Jahresaufenthalter in unserem Land arbeiten können, wenn die Reserven aus dem inneren Kreis erschöpft sind. Dem zweite Kreis ordnete der Bundesrat anderseits alle jene Länder zu, mit denen die Schweiz enge kulturelle Beziehungen unterhält (Nordamerika, eventuell auch Australien, Neuseeland und die Länder Ost- und Südosteuropas). Hier erhofft sich der Bundesrat eine vermehrte Rekrutierung von hochqualifizierten Arbeitskräften. Für die Staaten des zweiten Kreises wird aber ein strenger politischer Massstab angelegt: sie müssen demokratisch regiert sein und die Menschenrechte beachten, asylrechtlich also zu den "safe countries" zählen. Zum dritten Kreis werden alle übrigen Länder gerechnet; dort würden grundsätzlich keine Arbeitskräfte rekrutiert. Ausnahmen für vorübergehende Aufenthalte von Spezialisten sollen indessen möglich sein. Ansonsten wird für Menschen des äussersten Kreises die Schweiz höchstenfalls Asylland bleiben.
Im Bereich der Asylpolitik setzte der Bundesrat zwei Schwerpunkte. Einerseits will er inskünftig vermehrt dazu beitragen, die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in den Herkunftsländern zu verbessern, um die Ursachen der Auswanderung zu beseitigen. Andererseits strebt er eine immer engere Zusammenarbeit mit den anderen europäischen Aufnahmestaaten an (Erstasylabkommen, Harmonisierung des Asylrechts, Datenaustausch). Zudem bekräftigte er erneut seinen Willen, die durch die dritte Asylgesetzrevision geschaffenen Möglichkeiten der Verfahrensbeschleunigung möglichst voll auszuschöpfen [2].
Im Nationalrat wurde der Bericht mit ziemlicher Skepsis aufgenommen. Die meisten Redner würdigten zwar, dass sich der Bundesrat um eine Gesamtschau der Probleme bemüht und eine gute Diskussionsgrundlage geschaffen habe, bemängelten aber die primär arbeitsmarktpolitische Ausrichtung des Berichts, die offen. sichtliche Abkehr von der Stabilisierungspolitik der 70er Jahre und die fehlenden Perspektiven in der Flüchtlingspolitik. Die innereuropäische Öffnung wurde im grossen und ganzen positiv aufgenommen, ausser bei den SD und Teilen der SVP, welche die fehlenden demographischen Berechnungen über die Auswirkungen des freien Personenverkehrs kritisierten. Wenig Freude am Modell der drei Kreise zeigten CVP und SP. Ihrer Ansicht nach werden damit bereits innerhalb Europas Bürger einzelner Staaten als Menschen zweiter Klasse diskriminiert. Zudem sei es stossend, meinten einige Votanten, dass nach dem bundesrätlichen Konzept ausgerechnet Personen aus Ländern, in denen Menschenrechte immer wieder verletzt werden, keine Chance mehr haben sollen, in der Schweiz zu arbeiten.
Erwartungsgemäss war es der dritte Kreis, der zu den hitzigsten Debatten führte. Hier taten sich Ruf (sd, BE) – welcher nicht nur die Rückweisung des Berichtes, sondern gar den Rücktritt des gesamten Bundesrates verlangte – und Dreher (ap, ZH) durch Rundumschläge gegen die bundesrätliche Politik hervor. Deutliche Kritik an der bisherigen Asylpolitik, aber ohne fremdenfeindliche Untertöne, übte auch die liberale Fraktion; sie regte an, das Asylgesetz sei abzuschaffen und die überholte Flüchtlingskonvention notfalls zu kündigen, dafür solle sich die Schweiz bereit erklären, in Absprache mit dem Genfer Uno-Hochkommissariat jedes Jahr ein bestimmtes Kontingent von Flüchtlingen vorübergehend aufzunehmen.
Kritisch zur Asylpolitik äusserten sich auch Abgeordnete der FDP und der SVP. Sie traten vor allem für ein rascheres Asylverfahren und einen konsequenteren Vollzug der Ausschaffungen ein; falls dies nicht erreicht werden könne, seien Quoten nicht mehr zu umgehen. CVP und links-grünes Lager forderten dagegen eine Asylpolitik, welche den internationalen Konventionen zu genügen habe – was eine Kontingents- oder Quotenregelung ausschliesse – und keine zusätzlichen Diskriminierungen schaffen dürfe. Einig über die Parteigrenzen war man sich eigentlich nur in der Feststellung, dass der weltweiten Migration längerfristig nur durch entsprechende Hilfsmassnahmen in den Herkunftsländern beizukommen sei [3].
Im Ständerat verlief die Beratung des Berichtes emotionsloser. Ganz klar war hier die Flüchtlingspolitik das Hauptthema, die innereuropäische Öffnung wurde kaum berührt. Auch in der kleinen Kammer mochten die Vertreter von SVP und FDP eine Kontingentierung oder gar die Anwendung von Notrecht nicht mehr ausschliessen. Einen neuen Ansatz brachten die beiden FDP-Vertreter Bühler (LU) und Jagmetti (ZH) in die Diskussion, die anstatt des Drei-Kreise-Modells eine Aufteilung in Ausländer-, Asyl- und Migrationspolitik vorschlugen, wobei bei letzterer eine Quotenregelung ins Auge gefasst werden könnte, ohne dass damit internationale Konventionen verletzt würden. Gleich wie im Nationalrat fanden sich CVP und SP in ihrer Kritik an der nach ihrer Ansicht diskriminierenden Unterscheidung in drei Kreise. Auch sie sprachen sich aber, wie ihre Kollegen in der Volkskammer, für ein rasches Verfahren und einen konsequenten Vollzug der Wegweisungsentscheide aus, allerdings nur unter strikter Wahrung des Non-refoulement-Prinzips [4].
Im September konkretisierte der Bundesrat erstmals das Drei-Kreise-Modell, indem er aufgrund der prekären menschenrechtlichen Situation in Jugoslawien die jugoslawischen Arbeitskräfte vom zweiten in den dritten Kreis relegierte, von einer regulären Rekrutierung als Saisonniers also praktisch ausschloss. Davon betroffen wären etwa 44 000 Saisonniers, rund ein Drittel des gesamten Saisonniersbestandes der Schweiz. Der Entscheid des Bundesrates stiess bei den hauptsächlich betroffenen Branchen (Hotellerie und Baugewerbe) und bei den Gewerkschaften auf heftige Ablehnung. Allgemein wurde befürchtet, der Ausschluss Jugoslawiens aus dem Kreis der traditionellen Rekrutierungsländer werde zu einer Flut von Asylgesuchen jugoslawischer Staatsbürger führen [5].
In der Fragestunde der Herbstsession darauf angesprochen, relativierte der Bundesrat dann allerdings seinen Entscheid, von dem er bedauerte, dass er in der Öffentlichkeit teilweise missverstanden worden sei. Den Ausführungen Kollers zufolge soll Jugoslawien erst nach einer angemessenen Übergangsfrist von zwei bis drei Jahren vom zweiten in den dritten Kreis versetzt werden. Konkret bedeute dies, dass bereits bestehende Saisonnierarbeitsverhältnisse noch toleriert würden, dass man den Arbeitgebern aber anrate, anstatt neuen Jugoslawen lieber Angehörige der EG- oder Efta-Staaten anzuwerben. Gleichzeitig liess er durchblicken, dass, wenn sich die Menschenrechtslage im Verlauf dieser Übergangszeit zum Positiven wenden sollte, der Bundesrat seinen Entscheid noch einmal überprüfen könnte [6].
Bereits eine Woche zuvor hatte die Landesregierung eine Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung für jene Jugoslawen und ihre Familien beschlossen, die ihren Wohnsitz in den Bürgerkriegsgebieten – vor allem Kroatien – haben. Im November dehnte sie diese Massnahme auch auf Saisonniers kosovo-albanischer Herkunft aus. Ende Jahr gab der Bundesrat bekannt, angesichts des Bürgerkriegs alle ohne reguläre Arbeitsbewilligung in der Schweiz lebenden Jugoslawinnen und Jugoslawen aus Kroatien, dem Grenzgebiet Kroatien/Bosnien und aus der Region Kosovo sowie Deserteure und Dienstverweigerer vorläufig als Gruppe aufzunehmen, wodurch nicht mehr die Kantone allfällige Fürsorgeleistungen zu tragen haben, sondern der Bund. Gleichzeitig beschloss er aber, für jugoslawische Staatsbürgerinnen und -bürger ab 1. Januar 1992 die Visumspflicht einzuführen [7].
Da gerade der Fall Jugoslawien zeige, dass die unterschiedlichen Zuständigkeiten im Bereich der Flüchtlings- und Ausländerpolitik immer wieder zu Problemen führen, will der Vorsteher des EJPD Mittel und Wege zu einer besseren Koordination dieser Teilbereiche prüfen lassen. Unter anderem soll untersucht werden, inwieweit sich mit einer Zusammenfassung des Bundesamtes für Flüchtlinge (BFF) und des Bundesamtes für Ausländerfragen (BFA) oder anderen organisatorischen Massnahmen eine verbesserte Abstimmung der Ausländer- und der Asylpolitik erreichen liessen. Das rasche und starke Wachstum des BFF veranlasste zudem den Bundesrat, eine Organisationsüberprüfung dieses Amtes anzuordnen, welches mit seinen nun rund 500 Mitarbeitern zum grössten Bundesamt im EJPD geworden ist [8].
 
[2] BBl, 1991, III, S. 291 ff.; Lit. Werenfels; NZZ, 16.5.91; Presse vom 28.5.91; Ww, 30.5.91. Haltung der Fraktionen: NZZ, 5.6.91. Stellungnahme der Kirchen: Presse vom 11.6.91.
[3] Amtl. Bull. NR, 1991, S. 996 ff. Mit 100:2 Stimmen lehnte der Rat den Rückweisungsantrag Ruf ab. Im Anschluss an diese Diskussionen regte NR Seiler (svp, BE) in einem überwiesenen Postulat die Schaffung einer interdepartementalen Koordinationsstelle Für Ausländerpolitik an (Amtl. Bull. NR, 1991, S. 2501).
[4] Amtl. Bull. StR, 1991, S. 869 W. und 879 ff.; NZZ, 6.2.91 (Jagmetti). In ähnliche Richtung wie die Vorstellungen Jagmettis geht auch ein Postulat Wiederkehr (Idu, ZH), welches für Angehörige des dritten Kreises zahlenmässig befristete, auf ca. drei Jahre beschränkte Arbeitsbewilligungen anregt (Verhandl. B.vers., 1991, VI, S. 118).
[5] Presse vom 24.9.91.
[6] Amtl. Bull. NR, 1991, S. 1706 f.; Amtl. Bull. StR, 1991, S. 925. Anfangs Dezember reichte die Gewerkschaft Bau und Holz eine Petition mit 18 000 Unterschriften ein, die verlangte, Jugoslawien sei wieder in den zweiten Kreis aufzunehmen (Bund, 6.12.91).
[7] Presse vom 24.9. und 21.11.91.
[8] NZZ, 26.11.91.