Année politique Suisse 1991 : Politique sociale / Groupes sociaux
 
Familienpolitik
Nach Jahren relativer Ruhe ist in letzter Zeit wieder vermehrt von Familienpolitik die Rede. So auch im Parlament, wo in der Herbstsession mehrere parlamentarische Vorstösse behandelt wurden. Zwei gleichlautende Motionen Brügger und Piller (beide sp, FR) zur Förderung von Familien mit Kindern wurden vom jeweiligen Rat als Postulate überwiesen [64].
In Luzern tagte Mitte Oktober unter dem Präsidium von Bundespräsident Cotti die 22. Konferenz der europäischen Familienminister. 150 Minister und Ministerinnen sowie Delegierte aus 30 Nationen diskutierten in vier Arbeitssitzungen das Thema "Familienpolitik und Dezentralisation". In seiner Begrüssungsansprache betonte Cotti, eine aktive Familienpolitik sei in erster Linie ein Erfordernis der sozialen Gerechtigkeit gegenüber denjenigen, die durch Pflege und Erziehung von Kindern einen unerlässlichen Beitrag an den Weiterbestand der Gesellschaft leisteten. Als bedauernswert bezeichnete er es, dass immer mehr Aufgaben von den Familien weggenommen und professionellen Kräften überantwortet würden [65].
Eine gesamtschweizerische Regelung der Kinderzulagen hat nun auch im Parlament erstmals eine reelle Chance. Die vorberatende Kommission des Nationalrates unterstützte mit grosser Mehrheit eine parlamentarische Initiative Fankhauser (sp, BL) für eine Bundesregelung mit Mindestansätzen für Kinderzulagen. Der Vorstoss verlangt für die ganze Schweiz Kinderzulagen von mindestens 200 Fr. pro Kind, unabhängig davon, ob die Eltern erwerbstätig sind oder nicht. Dieser Ansatz orientiert sich an den zurzeit höchsten kantonalen Ansätzen und wäre regelmässig der Teuerung anzupassen. An Familien mit Kindern im betreuungsbedürftigen Alter, insbesondere aber an Alleinerziehende sollen ausserdem Bedarfsleistungen ausgerichtet werden, die wie die Ergänzungsleistungen zur AHV/IV auszugestalten wären. Letztmals hatten die Räte 1986 eine Regelung auf eidgenössischer Ebene abgelehnt [66].
Der Schutz bei Mutterschaft wurde im Nationalrat ebenfalls thematisiert. Eine von E. Segmüller (cvp, SG) eingereichte Motion für eine Lohnfortzahlung bei Mutterschaft wurde, da der Bundesrat versicherte, das Anliegen speditiv an die Hand nehmen zu wollen, auf seinen Antrag allerdings nur als Postulat angenommen [67].
Für Bestrebungen, durch eine Ausdehnung der Anspruchsberechtigung auf Ergänzungsleistungen einkommensschwache Familien sowie Alleinerziehende besserzustellen siehe oben 7d (Ergänzungsleistungen).
Knapp drei Wochen, nachdem die Bundeskanzlei das definitive Scheitern der Volksinitiative "für die Gleichberechtigung von Mann und Frau bei der Wahl des Ehenamens (Stammhalterinitiative)" bekannt gegeben hatte, wurde von denselben Initianten ein neues Begehren "für gleiche Rechte von Frau und Mann bei der Wahl des Familiennamens (Familiennameninitiative)" lanciert. Im Unterschied zur ersten Initiative wurde der Passus weggelassen, wonach der Name des Mannes zum Familiennamen wird, wenn die Eheleute keine andere Bestimmung treffen. Obgleich die Trägerschaft diesmal politisch breiter abgestützt ist – dem Initiativkomitee gehören unter anderen der zurückgetretene Ständerat Miville (sp, BS) und Nationalrätin Grendelmeier (ldu, ZH) an – verlief die Unterschriftensammlung erneut harzig, da sich keine bedeutende Organisation hinter das Begehren stellen mochte [68].
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Kinder
Im April kündigte der Bundesrat an, dass er die UNO-Konvention über die Rechte der Kinder unterzeichnen werde. Bestehenden Unstimmigkeiten zur schweizerischen Rechtsordnung — beispielsweise in Zusammenhang mit dem fehlenden Recht auf Familiennachzug für bestimmte Ausländerkategorien — möchte er mit einem Vorbehalt begegnen [69]. Die Regierung bekräftigte damit ihre Stellungnahme zu einer Motion Longet (sp, GE), welche den Bundesrat aufforderte, den Räten die Ratifizierung der UNO-Konvention zu beantragen und gleichzeitig die nötigen Anpassungen des Landesrechts vorzulegen. Bei dieser Gelegenheit erklärte der Bundesrat, dass er dieses Übereinkommen den Räten erst nach Vorliegen der Botschaften zu den internationalen Abkommen über die Menschenrechte und die Rassendiskriminierung unterbreiten werde. Da die Motion im Rat bekämpft wurde, musste die Diskussion verschoben werden [70].
In der Herbstsession zeigte sich der Nationalrat aber bereit, in dieser Frage eine härtere Gangart einzuschlagen. Gemäss dem Antrag der Petitions- und Gewährleistungskommission zeigte er zwar wenig Neigung, einer parlamentarischen Initiative Spielmann (pda, GE), welche eine vorbehaltlose Unterzeichnung der Konvention verlangt hatte, Folge zu geben, verabschiedete aber eine entsprechende Kommissionsmotion. Gleichzeitig überwies er eine analoge Petition der Schweizer Kirchen zur Kenntnisnahme an den Bundesrat [71].
In einem überwiesenen Postulat nahm Nationalrätin Fankhauser (sp, BL) das gesellschaftliche Tabu der sexuellen Ausbeutung von Kindern auf. Sie erinnerte daran, dass gemäss ernstzunehmenden Quellen in der Schweiz jährlich 40 000 bis 45 000 Kinder sexuell missbraucht werden, wobei der Täter in sehr vielen Fällen im unmittelbaren Umfeld des Kindes zu finden ist. Sie verlangte deshalb eine öffentliche Enttabuisierung des Themas sowie Hilfestellung für die Opfer und deren Familien [72].
 
[64] Amtl. Bull. NR, 1991, S. 1962 f.; Amtl. Bull. StR, 1991, S. 801 ff. Ein Postulat der CVP-Fraktion, welche die Ausarbeitung eines Berichtes zur Situation der Familie anregte, wurde, da der BR auf eine Anzahl laufender Untersuchungen verweisen konnte, auf seinen Antrag abgeschrieben (Amtl. Bull. NR, 1991, S. 2496 ff.).
[65] Presse vom 15.10, 16.10. und 18.10.91.
[66] NZZ, 21.8.91; TA, 26.8.91. In der Frühjahrssession hatte sich der BR noch zurückhaltend geäussert und darauf hingewiesen, dass die Vernehmlassungen in den Kantonen bisher immer negativ verlaufen waren (Amtl. Bull. NR, 1991, S. 829).
[67] Amtl. Bull. NR, 1991, S. 1967. In Ermangelung einer Bundeslösung sind in den letzten Jahren die Kantone aktiv geworden. Nach Schaffhausen, Zug und St. Gallen führte Luzern zu Beginn des Berichtsjahres Mutterschaftszulagen ein. In den Kantonen Genf und Graubünden sind sie beschlossen, in Freiburg und der Waadt in Vorbereitung (LNN, 14.5.91).
[68] BBl, 1991, I, S. 1570 und Il, S. 153 ff.; Bund, 6.1.92. Siehe auch SPJ 1989, S. 222 f.
[69] NZZ, 13.4.91. Mit der Broschüre "Versteckt und alleingelassen" machten das Schweizerische Komitee für Unicef, die Pro Juventute, die Pro Familia und der Schweizerische Kinderschutzbund auf die Situation der versteckten Saisonnier-Kinder aufmerksam und verlangten, dass die Schweiz im Rechtskonflikt zwischen dem universalen Recht auf Bildung und Familienleben und dem nationalen Unrecht des illegalen Aufenthalts eine Lösung suchen müsse (Lit. Müller; Presse vom 10.5. und 3.10.91; Bund, 24.3.92). Siehe auch oben, Ausländer/Zulassungspolitik.
[70] Amtl. Bull. NR, 1991, S. 750 f. Siehe dazu auch SPJ 1989, S. 223 und 1990, S. 244 f.
[71] NR Spielmann zog seine Initiative schliesslich zurück, so dass es darüber zu keiner Abstimmung kam (Amtl. Bull. NR, 1991, S. 1931 ff.). Der StR nahm die Petition ebenfalls an, behandelte die NR-Motion aber noch nicht (Amtl. Bull. StR, 1991, S. 1099 f.). Noch nicht traktandiert wurde auch eine Standesinitiative des Kantons Jura (Verhandl. B. vers., 1991, VI, S. 20).
[72] Amtl. Bull. NR, 1991, S. 1349; SGT, 11.3.91; Express, 25.4.91; Ww, 30.5.91. Im November lancierten rund 30 Hilfswerke und weitere Organisationen aus den Bereichen Entwicklungspolitik, Kinderschutz und Kirche eine Kampagne gegen die weltweite sexuelle Ausbeutung von Kindern, wie sie sich am spektakulärsten mit der Kinderprostitution in der dritten Welt manifestiert (Presse vom 5.11.91).