Année politique Suisse 1992 : Eléments du système politique / Institutions et droits populaires
Volksrechte
Als 1991 eine Rekordzahl von
Referenden lanciert worden war, sprachen einige bereits von einem Beweis für den Vertrauensverlust der Bevölkerung in die Behörden. Die Abstimmungsresultate zeigten nun, dass die grosse Zahl der Referenden wohl eher damit zu tun hatte, dass im heutigen Kommunikationszeitalter mit Leichtigkeit die erforderlichen Unterschriften gesammelt werden können, als mit einer breiten Opposition gegen die Parlamentsmehrheit. Während im langjährigen Mittel jedes zweite fakultative Referendum zu einer Ablehnung des Parlamentsbeschlusses führt, sank die Erfolgsquote für die Opposition in diesem Jahr auf weniger als einen Viertel. Bei den neun infolge eines fakultativen Referendums zur Abstimmung gelangenden Vorlagen konnten die Gegner nur gerade zweimal – bei der Verbesserung der Entschädigung resp. der Infrastruktur für die Parlamentarier – eine Mehrheit der Stimmbürger hinter sich scharen. Im Berichtsjahr wurden nur noch gegen zwei Parlamentsbeschlüsse (Treibstoffzollerhöhung bzw. Krankenkassen) das Referendum lanciert
[44].
Im Berichtsjahr wurden
vier neue Volksinitiativen eingereicht. Drei davon hatten die Sicherheitspolitik zum Thema (gegen Kampfflugzeuge von der GSoA (Gruppe für eine Schweiz ohne Armee); für eine Reduktion des Militärbudgets resp. für ein Waffenausfuhrverbot von der SP), ein von den SD eingereichtes Volksbegehren verlangt eine restriktivere Flüchtlingspolitik. Bei der gegen den Kauf der F/A-18-Kampfflugzeuge gerichteten Volksinitiative erzielte die GSoA eine 'inoffizielle' Rekordzahl von rund 500 000 Unterschriften. Inoffiziell deshalb, weil die GSoA aus Zeitgründen – sie wollte ihr Begehren noch vor dem Kaufentscheid des Nationalrats einreichen – nur 181 707 Unterschriften beglaubigen liess und die restlichen 320 000 als Petition einreichte
[45].
Alle drei dem Volk
zur Abstimmung vorgelegten Initiativen scheiterten (Krankenkassen, Tierversuche und Gewässerschutz). Beim Gewässerschutz konnte sich immerhin der von den Initianten ebenfalls unterstützte indirekte Gegenvorschlag durchsetzen. Damit stieg die Zahl der Ende 1992 hängigen, d.h. eingereichten, aber noch nicht dem Volk zum Entscheid vorgelegten Volksinitiativen von 15 auf 16. Die Zahl der im Berichtsjahr neu lancierten Volksinitiativen ist auf 10 (Vorjahr: 8) angestiegen
[46].
Die Auseinandersetzungen über den EWR belebten nicht nur die Diskussion über das Regierungssystem, sondern gaben auch neuen Ideen bei der Ausgestaltung der Volksrechte Auftrieb. Angesichts der Tatsache, dass die Schweiz im Rahmen des EWR zukünftig hätte EG-Recht fristgerecht übernehmen müssen, schlugen die SP und später auch die Staatspolitische Kommission des Nationalrats die
Einführung des konstruktiven Referendums vor. Dieses neue Volksrecht würde es den Gegnern eines Behördenentscheides erlauben, diesen weiterhin mit einem Referendum zu bekämpfen, gleichzeitig aber einen eigenen, allerdings ebenfalls mit dem EG-Recht verträglichen Gegenvorschlag einzubringen. Nach Ansicht der Kommission hätte damit die Schweiz den EWR-Verpflichtungen in bezug auf rasche Gesetzesanpassungen genügen können, ohne die Volksrechte abbauen zu müssen. Da der Nationalrat der Meinung war, dass die EWR-Vorlage nicht auch noch mit der Schaffung von neuen Volksrechten belastet werden sollte, zog die Kommission ihren Vorschlag zwecks weiterer interner Beratung zurück
[47]. Die Idee des konstruktiven Referendums ist nicht allein auf Bundesebene im Gespräch. Anlässlich der
Totalrevision der bernischen Verfassung beantragte die Verfassungskommission die Einführung dieses neuen, hier Volksvorschlag genannten Instruments. Der Grosse Rat lehnte dies zwar knapp ab, beschloss aber, den endgültigen Entscheid darüber dem Volk als Variantenabstimmung im Rahmen des Entscheids über die neue Verfassung zu überlassen
[48].
Die im Vorjahr in Schwung gekommene Diskussion über die Zulässig
keit von Rückwirkungsklauseln in Volksinitiativen wurde im Berichtsjahr aus aktuellem Anlass weitergeführt. Zuerst hatte das Parlament zur Volksinitiative "40 Waffenplätze sind genug" Stellung zu nehmen. Dieses Begehren wurde primär zur Verhinderung des 1989 von der Bundesversammlung beschlossenen Waffenplatzes Neuchlen (SG) eingereicht und ist deshalb mit einer Rückwirkungsklausel ausgestattet. Noch während dieser Auseinandersetzung reichten Armeegegner eine Volksinitiative ein, welche den Parlamentsbeschluss für den Kauf von F/A-18-Kampfflugzeugen ebenfalls mit einer rückwirkenden Bestimmung zu Fall bringen'will. Einige bürgerliche Parlamentarier – unter ihnen der Berner Ständerat Zimmerli (svp) – sprachen sich ,für eine Ungültigkeitserklärung der Waffenplatzinitiative aus, da mit ihr im nachhinein ein gemäss Verfassung dem Parlament zustehender Entscheid korrigiert werden soll und damit die Volksinitiative den Charakter eines nicht vorgesehenen Referendums erhalte
[49].
Der Bundesrat hatte in seiner Botschaft zur Waffenplatzinitiative festgestellt, dass eine Rückwirkungsklausel bei Volksinitiativen in der bisheriger Praxis zugelassen war. Da dem Initiativrecht keine materiellen Schranken (mit Ausnahme der faktischen Durchführbarkeit und der Einheit der Materie) gesetzt sind, plädierten der Staatsrechtler Schindler – der im Auftrag des Bundesrates ein Gutachten erstellt hatte – sowie auch seine Kollegen Eichenberger und Kölz, welche die Frage im Auftrag einer Ständeratskommission abgeklärt hatten, gegen eine Ungültigkeitserklärung von Initiativen mit Rückwirkungsklauseln
[50]. Das Parlament schloss sich bei der Waffenplatzinitiative diesen Überlegungen an und erklärte sie für gültig
[51].
Auch wenn das Parlament diese aktuellen sicherheitspolitischen Streitfragen nicht zum Anlass für eine Praxisänderung nehmen wollte, wird das Thema im Gespräch bleiben. Die Staatspolitische Kommission des Nationalrats beschloss mit knappem Mehr, die im Vorjahr überwiesene parlamentarische Initiative Zwingli (fdp, SG) weiter zu behandeln und abzuklären, welche neuen Bestimmungen geschaffen werden müssten, um Rückwirkungsklauseln in Volksinitiativen in Zukunft zu verbieten
[52].
Ein Vorschlag, wie vermieden werden könnte, dass vom Parlament beschlossene grosse Rüstungsgeschäfte und Bauprojekte mit rückwirkenden Volksinitiativen bekämpft werden, kam vom Staatsrechtler Kölz und wurde auf politischer Ebene von Nationalrat Rechsteiner (sp, SG) in Form einer parlamentarischen Initiative aufgenommen. Diese verlangt, dass die Bundesversammlung auch
Verwaltungsakte von ausserordentlicher Tragweite in der Form eines allgemeinverbindlichen – und damit
dem fakultativen Referendum unterstellten – Bundesbeschlusses fassen kann. Gemäss Kölz hatte die anlässlich der Verfassungstotalrevision von 1874 eingeführte Rechtsform des allgemeinverbindlichen Bundesbeschlusses ursprünglich die Bedeutung eines Verwaltungsreferendums für wichtige Entscheide. Sie war dann aber 1962 im Rahmen einer Revision des Geschäftsverkehrsgesetzes restriktiver gefasst worden, indem ihre Anwendung auf zeitlich befristete gesetzgeberische Entscheide beschränkt wurde
[53].
Die in den letzten Jahren einige Male festgestellte Praxis, dass Personen für das Sammeln von Unterschriften für Initiativen und Referenden entschädigt worden sind oder dass – wie z.B. bei den Referenden gegen die Parlamentsreform – gleich Werbeagenturen mit der Unterschriftensammlung beauftragt wurden, veranlasste Ständerat Petitpierre (fdp, GE) zur Einreichung einer Motion. Er forderte darin, dass wie in Österreich Volksbegehren nur noch in bestimmten Büros (z.B. Gemeindeverwaltung) unterzeichnet werden dürfen. Nachdem Bundeskanzler Couchepin auf den für 1993 angekündigten Entwurf für die Revision des Gesetzes über die politischen Rechte verwiesen hatte, wandelte der Rat den Vorstoss in ein Postulat um
[54].
Der Grüne Rebeaud (GE) nahm ebenfalls die Praktiken beim Referendum gegen die Parlamentsreform zum Anlass, um mit einer vom Nationalrat noch nicht behandelten parlamentarischen Initiative ein
Verbot für bezahlte Unterschriftensammler und für den Massenversand von Unterschriftenbogen zu verlangen. Zwei parlamentarische Initiativen, welche eine Anpassung der für Referendum (Rychen, svp, BE) resp. Volksinitiative (Seiler, svp, BE) benötigten Unterschriftenzahl an die stark gestiegene Zahl der Stimmberechtigten verlangten, fanden in der Staatspolitischen Kommission des Nationalrats keine Unterstützung
[55].
Die Zahl der Listen von Nationalratskandidaten war in den letzten Jahren kontinuierlich angestiegen. Waren es 1979 gesamt schweizerisch noch 164 Listen gewesen, so wurden den Stimmberechtigten 1987 insgesamt 222 und 1991 gar 248 Listen vorgelegt. Vor allem in den bevölkerungsreichsten Kantonen, in denen es nur einen geringen Stimmenanteil für einen Sitzgewinn braucht, schossen die Listen von bisher kaum oder gar nicht bekannten Gruppierungen ins Kraut. Dies schaffte einerseits Probleme beim Versand der Stimmzettel und des Propagandamaterials sowie der Auszählung. Es wurde andererseits auch vermutet, dass sich die Stimmberechtigten infolge der grossen Anzahl von Listen nicht mehr zurechtfinden. Die Freisinnige Spoerry (ZH) hatte deshalb bereits Ende 1991 mit einer parlamentarischen Initiative Massnahmen zur Bekämpfung dieser Listenflut gefordert. Sie schlug vor, die für einen Wahlvorschlag erforderliche Unterschriftenzahl für grosse Kantone auf 200-300 zu erhöhen, ein Gelddepot zu verlangen, das bei Nichterreichen einer bestimmten Stimmenzahl verfallen würde, und Unterlistenverbindungen zu verbieten.
Da der Bundesrat ohnehin an einer Revision des Bundesgesetzes über die politischen Rechte arbeitet, beantragte die vorberatende Staatspolitische Kommission des Nationalrats, diese Forderungen in Form einer Motion an den Bundesrat zu überweisen. Eine aus Grünen und Linken gebildete Minderheit der Kommission möchte allerdings nur den ersten Punkt verwirklichen. Unabhängig davon hatte Nationalrat Bürgi (fdp, SG) ein Postulat für ein Verbot von parteiübergreifenden Listenverbindungen bzw. Unterlistenverbindungen eingereicht. Da dieses von Thür (gp, AG) bekämpft wurde, konnte es im Berichtsjahr noch nicht behandelt werden
[56].
Die Staatspolitische Kommission des Nationalrats möchte die aus dem letzten Jahrhundert stammende Verfassungsbestimmung streichen, wonach in den Nationalrat
nur Personen "weltlichen Standes" (d.h. keine Pfarrer u.ä.)
wählbar sind. Sie beschloss einstimmig, einer parlamentarischen Initiative Sieber (evp, ZH), der nach seiner 1991 erfolgten Wahl auf die Ausübung seines Amtes als Pfarrer hatte verzichten müssen, Folge zu geben
[57].
Im Prinzip gilt in der Schweiz die Regel, dass die Behörden keine
öffentlichen Gelder für politische Werbekampagnen ausgeben sollen. Es war daher nicht erstaunlich, dass das Vorhaben des Bundesrates, für eine Informationskampagne über den EWR-Vertrag mit begleitenden demoskopischen Untersuchungen 5,9 Mio Fr. einzusetzen – das Parlament bewilligte schliesslich nur 3,5 Mio –, bei den EWR-Gegnern Kritik und Misstrauen erzeugte. Mehrmals musste der Bundesrat im Parlament diese Kampagne – die er angesichts der Tragweite des EWR-Entscheids für begründet ansah – rechtfertigen und versichern, dass er über die strikte Objektivität der angebotenen Informationen wache
[58].
[44] JdG, 30.12.92. Zu den einzelnen Referenden siehe die entsprechenden Sachkapitel.
[45] Wirtschaftsförderung, Initiativen + Referenden, Zürich 1993. Zu den einzelnen Initiativen siehe die entsprechenden Sachkapitel.
[46] Siehe zu den einzelnen Abstimmungen die entsprechenden Sachkapitel.
[47] NZZ, 27.6.92 (SP); Amtl. Bull. NR, 1992, S. 1397 ff. (Kommission). Siehe auch Lit. Luthart und Möckli.
[48] BZ, 10.9. und 4.11.92. Vgl. auch Lit. Bolz. Zur Berner Verfassungsrevision siehe oben, Teil I, 1a (Totalrevision von Kantonsverfassungen) sowie unten, Teil II, la.
[49] Vgl. dazu Zimmerli in Amtl. Bull. StR, 1992, S. 530 f.
[50] BBl, 1991, IV, S. 258 f. (Botschaft); TA, 21.3. und 13.5.92 (Eichenberger / Kölz; ähnlich argumentierte auch Hangartner in NZZ, 13.5.92); BaZ, 16.4.92 (zum Gutachten Schindler). Siehe auch Lit. "Zulässigkeit ...". Zur ungelösten Frage der Ungültigkeit von Volksinitiativen wegen Unvereinbarkeit mit völkerrechtlichen Verpflichtungen siehe u.a. Amtl. Bull. NR, 1992, S. 2254 f.
[51] Vgl. dazu unten, Teil I, 3 (Constructions militaires). Die Debatte über Rückwirkungsklauseln wurde namentlich im StR geführt; vgl. dazu v.a. die Voten von Zimmerli (svp, BE), Rhinow (fdp, BL) und Jagmetti (fdp, ZH) in Amtl. Bull. StR, 1992, S. 530 ff.
[52] NZZ, 16.5.92. Vgl. SPJ 1991, S. 46 f.
[53] NZZ, 20.5.92; TA, 23.5.92; Verhandl. B.vers., 1992, V, S. 33. Siehe auch Lit. Hangartner.
[54] Amtl. Bull. StR, 1992, S. 545 f.; Suisse, 18.6.92. Der BR hatte 1990 beschlossen, die Gesetzesrevision erst nach dem Entscheid über den Beitritt zum EWR vorzulegen (SPJ 1989, S. 35 und 1990, S. 46 sowie NZZ, 8.12.92).
[55] Verhandl. B.vers., 1992, VI, S. 30 f.; Bund, 24.10.92. Zur Unterschriftensammlung gegen die Parlamentsreform siehe SPJ 1991, S. 41 f. Vgl. auch NQ, 18.1.92; 24 Heures, 17.2.92; Bund, 6.3.92 sowie oben, Fussnote 24.
[56] Parl. Initiative und Motionen: Verhandl. B.vers., 1992, VI, S. 30. Postulat: Amtl. Bull. NR, 1992, S. 1220. Vgl. auch BaZ, 4.1.92. Zur Zahl der Listen bei den Nationalratswahlen 1991 siehe SPJ 1991, S. 55.
[57] Verhandl. B.vers., 1992, VI, S. 31.; NZZ, 14.11.92.
[58] Interpellationen und Anfragen dazu: Amtl. Bull. NR, 1992, S. 648 f., 670 f., 1277 und 2251. Vgl. auch unten, Teil I, 2, (EEE) sowie 5 (Staatsrechnung 1992). Siehe dazu auch BüZ, 21.12.92 sowie allgemein Lit. Decurtins und Ramseyer.
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