Année politique Suisse 1992 : Politique sociale / Santé, assistance sociale, sport / Gesundheitspolitik
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Aids
Im Berichtsjahr wurden 651 Aids-Neuerkrankungen registriert, 46 mehr als im Jahr zuvor. Zunehmend ist die Zahl der durch heterosexuelle Kontakte infizierten Personen, wobei der Anstieg bei den Frauen besonders markant ist. Nach wie vor bilden Drogensüchtige die am meisten betroffene Gruppe (39,5% aller Erkrankungen), gefolgt von jener der homo- und bisexuellen Männer (38,6%). Gesamthaft gesehen flachte die Zunahme der Fälle 1992 jedoch leicht ab. Der Grund für diese Entwicklung lässt sich gemäss BAG nicht eindeutig feststellen. Sowohl von HIV-Positiven benutzte Medikamente als auch die Informationskampagnen des Bundes könnten eine Rolle gespielt haben. Von 1983 bis zum Ende des Berichtsjahrs erkrankten insgesamt 2879 Menschen an Aids; 1916 sind bereits an der Immunschwächekrankheit verstorben. Seit 1985 meldeten die Laboratorien 17 112 HIV-positive Testergebnisse [16].
Die Weltgesundheitsorganisation WHO bezeichnete die Schweizer Aids-Prävention als sehr erfolgreich. Dank intensivierter Aufklärung habe sich der Gebrauch von Kondomen stark erhöht, bei den Jugendlichen beispielsweise von 17 auf 73%. Zudem sei es gelungen, nicht nur die Risikogruppen, sondern auch die breite Bevölkerung anzusprechen. Besonderes Lob erhielt dabei die Stop-Aids-Informationskampagne des BAG und der "Aids Hilfe Schweiz" (AHS). Als weltweit einmalig bezeichneten die Fachleute die fortgesetzte Evaluation aller präventiven Massnahmen, deren Auswertung und Einbezug in neue Kampagnen. Anlass zur Kritik gaben hingegen die föderalistischen Strukturen, welche die Umsetzung der Prävention insbesondere im Bereich der Drogenpolitik teilweise behinderten [17].
Nach einem dreimonatigen Pilotprojekt im Vorjahr lancierte die Aids Hilfe Schweiz mit Unterstützung des BAG im Oktober neben anderen Präventionsprojekten das flächendeckend in Apotheken und Drogerien abgegebene Präventionsset "Flash", welches neben sauberem Spritzenmaterial und einem Kondom Informationsmaterial mit einer Liste der Beratungsstellen enthält. Bis Ende Jahr wurden 75 000 Sets ausgeliefert. Hingegen wurde im gleichen Zeitpunkt eine weitere Stop-Aids-Kampagne, welche den Gebrauch sauberer Spritzen propagieren wollte, vom BAG auf unbestimmte Zeit verschoben, da — vor allem auch an der Spitze des EDI — befürchtet wurde, dies könnte in der Öffentlichkeit als Drogenpromotionskampagne missverstanden werden [18].
Im Vorjahr hatte sich das BSV geweigert, den privaten Institutionen, welche zur Beherbergung Aids-Kranker geschaffen worden waren, Beiträge aus der Invalidenversicherung auszurichten, da es sich hier um eigentliche Sterbe-Heime handle, eine soziale und berufliche Eingliederung, wie sie die IV anstrebt, also nicht mehr gegeben sei. Das Basler "Light-House", die erste Einrichtung dieser Art in der Schweiz, reichte umgehend Beschwerde beim Eidgenössischen Versicherungsgericht ein. Dieses gab ihm Recht und befand, der Invaliditätsbegriff, wie ihn das Gesetz umschreibt (gesundheitlich bedingte bleibende oder länger dauernde Erwerbsunfähigkeit), sei durchaus auf Aids-Kranke anzuwenden, weshalb Aids-Wohnheime weiterhin Anspruch auf Betriebsbeiträge aus der IV hätten. Zudem handle es sich bei den Aids-Sterbeheimen um Stätten der sozialen Integration, da ohne Institutionen wie das "Lighthouse" Aids-Kranke im Endstadium in Spitäler eingeliefert werden müssten, wo sie — abgesehen von Phasen stationärer Behandlung — nicht angemessen untergebracht wären [19].
Anonyme Aids-Tests ohne ausdrückliches Einverständnis der Probanden sollen über die tatsächliche Ausbreitung des HI-Virus in der Schweiz Aufschluss geben und noch effektivere Präventionsmassnahmen ermöglichen. Der entsprechende Verordnungsentwurf stiess in der Vernehmlassung auf breite Zustimmung. Das sogenannte "Unlinked Anonymous Screening" verwendet Blutproben, die Patienten in Spitälern, Arztpraxen oder Laboratorien zu anderen medizinischen Zwecken ohnehin entnommen werden. Die Blutproben werden vollständig anonymisiert und von den vorgegebenen Teststellen auf HIV untersucht. Die Teststellen dürfen dabei nicht mit den Entnahmestellen identisch sein. Erhoben werden für das Screening lediglich Angaben über Alter, Geschlecht und Wohnregion der Testperson. Die Teilnahme am Screening) kann vom Patienten verweigert werden [20].
Die Kontroverse um HIV-verseuchte Blutpräparate flackerte erneut auf. Ein aidsinfizierter Hämophiler reichte Strafklage gegen Unbekannt ein — wobei aber klar war, dass er das BAG, die IKS und den Blutspendedienst des Schweizerischen Roten Kreuzes (SRK) meinte—, da er durch eine Bluttransfusion mit dem HI-Virus kontaminiert worden war. Er erhielt indirekte Unterstützung vom ehemaligen Leiter des Zentrallaboratoriums des SRK, der öffentlich erklärte, Opfer wären zu vermeiden gewesen, wenn die verantwortlichen Behörden rechtzeitig gehandelt hätten. Diese Anschuldigungen führten Ende Jahr zu einer konkreten Reaktion des SRK: Es entschloss sich, unter Mithilfe des BAG, welches dies schon mehrfach angeregt hatte, ein "Look back" durchzuführen, d.h. die Blutspendenempfänger, welche zwischen 1982 und 1985 womöglich ohne ihr Wissen mit kontaminiertem Blut angesteckt wurden, durch Zurückverfolgung der kritischen Blutkonserven ausfindig zu machen. Bisher hatte das SRK dies stets mit dem Hinweis auf die grosse psychische Belastung abgelehnt, welcher nicht infizierte Blutempfänger während des Abklärungsverfahrens ausgesetzt wären, sowie mit dem Fehlen wirksamer Medikamente gegen die Infektion [21].
 
[16] BAG-Bulletin, 1993, S. 18 ff.
[17] Bund, 23.6.92; Presse vom 18.11.92. Diese internationale Rückendeckung war für das BAG und die AHS umso bedeutender, als deren Kampagnen in letzter Zeit mehrfach von der repressiv ausgerichteten "Aids Aufklärung Schweiz" (AAS) unter Beschuss genommen wurden. Hartnäckig hielt sich das Gerücht, BR Cotti gerate zunehmend unter den Einfluss der AAS und des dahinter stehenden Vereins zur Förderung der psychologischen Menschenkenntnis (VPM): Presse vom 26.5.92; TA, 27.5. und 4.7.92; WoZ, 5.6.92; Ww, 18.6.92; NQ, 23.7.92. Cotti bestritt jede Beeinflussung (BüZ, 27.5.92).
[18] LNN. 3.10.92 und 20.1.93. Siehe SPJ 1991, S. 213:
[19] Presse vom 5.2.92.
[20] Presse vom 15.7. und 26.11.92; NZZ, 20.7.92.
[21] Presse vom 11.5. und 22.12.92; NQ, 12.5. und 19.12.92; Bund, 13.5.92; 24 Heures, 25.6.92 ; Presse vom 7.7.92; TA, 10.8., 18.8. und 23.9.92.