Année politique Suisse 1992 : Politique sociale / Assurances sociales
 
Berufliche Vorsorge
Geschiedene Frauen sind auch in der beruflichen Vorsorge schlecht gestellt. Von den Beiträgen, die der Mann während der Ehe einbezahlt hat, steht den Frauen nichts zu. Nach heutigem Recht können diese Beträge bei der Scheidung nicht berücksichtigt werden, weil sie lediglich eine Anwartschaft auf eine spätere Leistung darstellen. Nach dem Willen des Bundesrates soll sich dies nun ändern. Im Vorentwurf für ein neues Scheidungsrecht, den die Regierung im Berichtsjahr in die Vernehmlassung gab, befindet sich unter anderem die Bestimmung, dass beide Ehegatten grundsätzlich Anspruch auf die Hälfte der im Lauf der Ehe geäufneten Pensionskassenguthaben haben. Als Berechnungsgrundlage soll die im Zeitpunkt der Scheidung geltende Freizügigkeitsleistung dienen. Da das revidierte Scheidungsrecht wohl kaum vor dem Jahr 2000 in Kraft treten wird, enthält das neue Freizügigkeitsgesetz (siehe unten) eine Übergangsregelung, welche die Freizügigkeitsleistung bei Scheidung für übertragbar erklärt. Anhand der Berechnung der zu erwartenden Austrittsleistung haben die Gerichte zu bestimmen, was den beiden Partnern zusteht. Die Pensionskassen werden verpflichtet, den betreffenden Versicherten ein verzinsliches Darlehen zu gewähren, welches ihnen erlaubt, sich wieder in die vollen reglementarischen Leistungen einzukaufen [23].
Bei. Firmenzusammenbrüchen zeigte sich in letzter Zeit, dass die Guthaben von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern bei Personalvorsorgeeinrichtungen im vor- und überobligatorischen Bereich teilweise ungenügend gesichert sind, insbesondere dann, wenn das Kassenvermögen für Anlagen in der Stifterfirma verwendet wurde. Mit einer Motion wollte Nationalrat Rechsteiner (sp, SG) den Bundesrat verpflichten, die BVG-Bestimmungen hier schärfer zu formulieren. Weil der Bundesrat darauf hinwies, dass dieser Punkt im Rahmen der ersten BVG-Revision ohnehin aufgegriffen werde, wurde der Vorstoss auf seinen Antrag hin nur als Postulat überwiesen [24].
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Freizügigkeitsleistungen
Obgleich das Volksbegehren in seiner Zielsetzung — Lösung der "goldenen Fesseln" beim Stellenwechsel — völlig unbestritten war, verwarfen beide Kammern die Initiative des Kaufmännischen Verbandes "für die volle Freizügigkeit in der beruflichen Vorsorge". Als Gründe für ihre Ablehnung führten die Gegner — CVP, FDP, LP und SVP — formelle Vorbehalte an. Die Form der allgemeinen Anregung zwinge zum umständlichen Weg über einen ausformulierten Verfassungsartikel, zwei Volksabstimmungen und gesetzliche Anpassungen. Der Vorschlag des Bundesrates, das Anliegen auf Gesetzesstufe zu realisieren, sei rascher und effizienter. Die Befürworter der Initiative warnten davor, durch eine Ablehnung des Volksbegehrens frühzeitig politischen Druck wegzunehmen. Der bereits laut gewordene breite Widerstand gegen das angekündigte Freizügigkeitsgesetz lasse möglicherweise eine unfruchtbare Debatte erwarten. Das Parlament sei deshalb im Begriff, hier gewissermassen einen Blankoscheck zu unterschreiben, bemängelten vorab die Sprecher von SP und LdU/EVP [25].
Ende Februar legte der Bundesrat seinen Entwurf für ein Freizügigkeitsgesetz vor. Ursprünglich hätte den Pensionskassen zwingend und bis ins Detail vorgeschrieben werden sollen, wie sie die Eintritts- und die Austrittsleistungen zu berechnen haben. Nach der heftigen Opposition der Kassen im Vernehmlassungsverfahren schwächte der Bundesrat seinen Vorschlag ab, ohne freilich vom Ziel der vollen Freizügigkeit abzuweichen. Anstatt einer Harmonisierung der Reglemente und einer zwingenden Berechnungsformel für die Aus- und Eintrittsleistungen begnügt sich das Gesetz jetzt damit, die minimalen Ansprüche des Arbeitnehmers beim Verlassen der alten Pensionskasse und die maximalen Ansprüche der Vorsorgeeinrichtung beim Eintritt eines Versicherten kassenübergreifend aufeinander abzustimmen.
Bei Spareinrichtungen ist dem austretenden Vorsorgenehmer das Sparkapital mitzugeben, bei versicherungsmässig geführten Beitragsprimatkassen das Deckungskapital. Beim Eintritt müssen die Spareinrichtungen die ganze vom Versicherten mitgebrachte Austrittsleistung entgegennehmen. Die Versicherungskassen haben den Einkauf ins Deckungskapital zu ermöglichen. Die Leistungsprimatkassen bestimmen die Austritts- und Eintrittsleistungen dagegen grundsätzlich nach ihrem Reglement. Allerdings darf gemäss den Vorschlägen des Bundesrates die Eintrittsleistung nicht höher und die Austrittsleistung nicht tiefer ausfallen als die nach der Pro-rata-temporis-Methode berechnete Leistung. Dadurch behält der Arbeitnehmer beim Übertritt in eine andere Kasse den bereits erworbenen Vorsorgeschutz. Zusätzliche Eintrittsgelder wären nur beim Einkauf in höhere Vorsorgeleistungen nötig.
Am Vorentwurf wurden noch weitere Korrekturen vorgenommen. Jüngere Versicherungsnehmer erhalten eine verbesserte minimale Austrittsleistung. Diese besteht aus den eigenen Beiträgen und einem altersabhängigen Zuschlag von jährlich 4% ab Alter 20, maximal aus dem Doppelten der eigenen Beiträge. Hinzu kommen früher eingebrachte Austrittsleistungen samt Zins. Um den Vorsorgeschutz in optimaler Weise zu erhalten, muss neu die ganze Austrittsleistung und nicht – wie im Vorentwurf vorgesehen – bloss der obligatorische Teil in die neue Vorsorgeeinrichtung eingebracht werden. Teilzeitbeschäftigte werden grundsätzlich gleich behandelt wie Vollzeitbeschäftigte, und bei Anderung des Beschäftigungsgrades wird wie bei einem Stellenwechsel abgerechnet. Der Entwurf regelt auch, wie bei einer Ehescheidung die erworbenen Ansprüche auf Vorsorgeleistungen abgegolten werden können (s. oben) [26].
Die Pensionskassen und die Arbeitgeber rüsteten umgehend zum Feldzug auch gegen die moderatere Vorlage. Sie warfen ihr vor, immer noch zu perfektionistisch zu sein, die Leistungen zu gefährden und die Kassen über Gebühr einzuengen. Die Gewerkschaften orteten auch Schwachstellen im neuen Gesetz. Insbesondere erachteten sie die Leistungen für Versicherte unter 45 Jahren als zu tief, was alle jene benachteilige, die frühzeitig aus dem System ausscheiden, namentlich die ausländischen Arbeitskräfte. Zudem entstünden bei einem Übertritt in eine systemfremde Kasse – also von einer Leistungs- in eine Beitragsprimatkasse und umgekehrt – nach wie vor grosse Verluste oder Gewinne, weshalb nicht von einer vollen, sondern nur von einer verbesserten Freizügigkeit gesprochen werden dürfe. Gesamthaft stellten sie sich jedoch hinter die Vorschläge des Bundesrates [27].
Die zuständige Nationalratskommission unter Präsident Deiss (cvp, FR) trat zwar oppositionslos auf den Entwurf des Bundesrates ein, verlangte aber nach einer ersten Lesung weitere Abklärungen durch eine Subkommission und durch die Verwaltung. Schliesslich verabschiedete sie einen leicht modifizierten Vorschlag, welcherdie Mobilität der bis 45jährigen deutlich verbessert, ohne deswegen die Betriebstreuen zu benachteiligen. Die Kommission sah neu vor, dass der Versicherte neben der allfälligen Eintrittsleistung und den eigenen Beiträgen zwischen dem 25. und dem 45. Altersjahr pro Jahr einen Zuschlag von 5% erhält. Ab 45 Jahren verdoppelt sich so das Mitnahmekapital, womit die volle Freizügigkeit erreicht ist, allerdings nur unter der Bedingung, dass in der alten Kasse die Beiträge paritätisch gestaltet waren. Im Gegensatz zum Vorschlag des Bundesrates – und im Entgegenkommen an die Kassen – setzt der Sparprozess fünf Jahre später ein, steigt aber um ein Prozent mehr pro Jahr. Ebenfalls als Konzession an die Kassen wurde der Verzicht auf einen einheitlichen technischen Zinssatz verstanden: Anstatt den heute gebräuchlichen Zinssatz von vier Prozent für alle vorzuschreiben, gab die Kommission dem Bundesrat die Kompetenz, innerhalb einer Bandbreite von mindestens einem Prozent zu differenzieren, was in der Praxis zu Eckwerten zwischen 3,75 und 4,75% führen dürfte.
Der Rat folgte mit unwesentlichen Detailkorrekturen den Anträgen seiner Kommission. Die Vorlage wurde schliesslich einstimmig zuhanden dés Ständerates verabschiedet. Auf der Strecke blieben die Anträge Hafner (sp, SH) und Nabholz (fdp, ZH), wonach bei einer Ehescheidung die Pensionskassenansprüche hälftig zu teilen seien. Die Mehrheit des Rates erinnerte an die anstehende Revision des Scheidungsrechts und wollte das Mass der Aufteilung bis dahin den Gerichten überlassen. Mit dem Hinweis auf die kommende Revision der Arbeitslosenversicherung wurde ein Antrag Brunner (sp, GE), bei Entlassùng aus wirtschaftlichen Gründen sei die volle Freizügigkeit unbekümmert des Alters zu gewähren, ebenfalls abgelehnt. Keine Chance hatten auch die Anträge Loeb (fdp, BE) für eine Übergangsfrist von drei Jahren sowie jener einer Kommissionsminderheit unter Bortoluzzi (svp, ZH) für eine Anpassungszeit von fünf Jahren. Der Rat folgte dem Antrag der Kommissionsmehrheit, welche betonte, das Inkrafttreten der Freizügigkeit sei dringlich und werde ohnehin nicht vor 1995/96 möglich sein [28].
Weder die Botschaft des Bundesrates noch die parlamentarischen Modifikationen konnten den Kaufmännischen Verein dazu veranlassen, seine Initiative zurückzuziehen [29].
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Konjunkturelle Anpassungen
Gemäss Antrag des Bundesrates nahm der Nationalrat eine Motion Dünki (evp, ZH) für einen vollen Teuerungsausgleich auf den laufenden Altersrenten der beruflichen Vorsorge nur als Postulat an. Hauptargument der Regierung war, dass die Finanzierung dieses an sich berechtigten Anliegens noch sehr sorgfältig geprüft werden müsse. Allenspach (fdp, ZH), der eine Teuerungsanpassung ohne Beitragserhöhung für unrealisierbar hielt, wollte selbst das Postulat nicht überwiesen wissen, konnte sich jedoch nicht durchsetzen [30].
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Anlagepolitik der Pensionskassen
Damit die Vorsorgeeinrichtungen der zweiten Säule ab 1993 wieder mehr Spielraum bei der Anlage ihres Vermögens haben, änderte der Bundesrat die einschlägige Verordnung. Mit den neuen Anlagebegrenzungen wurden verschiedene Quoten wiederhergestellt, die mit dem Ende März 1991 vorzeitig aufgehobenen dringlichen Bodenrechtsbeschluss von 1989 eingeführt worden waren. So wurde die Anlagegrenze für inländische Immobilien, die auf 30% reduziert worden war, wieder auf 50% angehoben [31].
 
[23] TA, 2.11.92.
[24] Amtl. Bull. NR, 1992, S. 2157; SGT, 23.3.92; Presse vom 21.4.92; LNN, 2.10.92.
[25] Neben SP und LdU/EVP stimmten auch die Fraktionen von GP, AP und SD/Lega der Initiative zu: Amtl. Bull. NR, 1992, 136 ff. und 1268; Amtl. Bull. StR, 1992, S. 361 ff. und 628. Siehe auch SPJ 1989, S. 206 f.
[26] BBl, 1992, III, S. 533 ff.; Presse vom 27.2.92; SHZ, 14.5.92.
[27] Bund, 10.4.92; SAZ, 15.4.92; TA, 11.5.92; NZZ, 5.6.92.
[28] Amtl. Bull. NR, 1992, S. 2423 ff. und 2451 ff.; NZZ, 18.4., 26.5. und 18.11.92; Presse vom 9.12. und 10.12.92.
[29] NZZ, 4.2., 18.11. und 23.12.92.
[30] Amtl. Bull. NR, 1992, S. 248 ff.
[31] NZZ, 29.10.92. Zur konservativen Anlagepolitik der Pensionskassen und der entsprechend schwachen Rendite siehe auch NZZ, 18.9.92 und NQ, 25.20.92. Vgl. auch SPJ 1991, S. 231 und oben, Teil I, 6c (Mietwesen und Wohnungsbau).