Année politique Suisse 1992 : Politique sociale / Assurances sociales
 
Arbeitslosenversicherung
Auf den 1. Februar 1992 wurde das revidierte Arbeitslosenversicherungsgesetz in Kraft gesetzt. Bereits Mitte März machte der Bundesrat von seinen neuen Kompetenzen Gebrauch und erhöhte auf dem Verordnungsweg die Bezugsdauer für die am stärksten von Arbeitslosigkeit betroffenen Kantone Genf, Neuenburg und Tessin auf maximal 300 Tage. Die Massnahme wurde in der Folge auf weitere Kantone und schliesslich per I. Januar 1993 auf die ganze Schweiz ausgedehnt. Auf den gleichen Zeitpunkt hin wurde die Höchstdauer der Kurzarbeitsentschädigung von 12 auf 18 Monate angehoben. Zudem wurde beschlossen, dass Arbeitslose inskünftig nur noch einmal pro Woche stempeln müssen [49].
Angesichts der sprunghaft angestiegenen Arbeitslosigkeit beschloss der Bundesrat Mitte Jahr, die Beiträge an die Arbeitslosenversicherung ab dem kommenden Jahr von 0,4 auf 1,5 Lohnprozente anzuheben. Die paritätisch zusammengesetzte ALV-Aufsichtskommission hatte dem Bundesrat anfangs Mai eine Verdreifachung der Prämien auf 1,2% vorgeschlagen und dabei in Kauf genommen, dass sich die ALV teilweise über den Kapitalmarkt finanzieren müsste. Aus finanzrechtlichen Überlegungen und um der Staatsverschuldung nicht weiter Vorschub zu leisten, entschloss sich die Regierung — gegen den Willen der Arbeitgeber, aber mit Billigung der Gewerkschaften — für den neuen Beitragssatz. Im November musste sie wegen dem drohenden Milliardenloch im ALV-Ausgleichsfonds eine weitere Erhöhung auf zwei Lohnprozente per 1. Januar 1993 ankündigen. Damit wurde das gesetzlich festgesetzte Maximum der Beiträge der Sozialpartner ausgeschöpft [50].
Da sich in unmittelbarer Zukunft eher noch eine Verschärfung der Arbeitsmarktlage abzeichnet, gab der Bundesrat ausserdem einen Entwurf für einen dringlichen Bundesbeschluss in die Vernehmlassung. Zur Diskussion stellte er dabei eine Verlängerung der Bezugsberechtigung der Arbeitslosengelder von maximal 300 auf 400 Tage, eine Reduktion des Entschädigungssatzes von 80 auf 70% des vorherigen Lohnes, wobei allerdings ein Ausnahmekatalog vorgesehen war, administrative Erleichterungen (Wegfall der Kontrollpflicht bei Kurzarbeit) sowie Anreize für vorübergehende Arbeitseinsätze (Erhöhung der Subventionssätze für Programme zur vorübergehenden Beschäftigung von Arbeitslosen). Eine tiefgreifende Revision der ALV wollte der Bundesrat hingegen auf den ordentlichen Gesetzgebungsweg verweisen. Als Zeithorizont nannte er Mitte 1994 [51].
In der Vernehmlassung war vor allem die Kürzung der Taggelder hart umstritten. Die Arbeitgeber erklärten sich nur bereit, der Verlängerung der Bezugsdauer zuzustimmen, wenn die Ausnahmeregelung bei der Kürzung der Taggelder deutlich eingeschränkt werde. Diese Haltung nahm auch die FDP ein. Grundsätzliche Opposition gegen jegliche Kürzung meldeten hingegen die SP, die GP und der SBG an, welcher zudem verlangte, die Bezugsdauer sei auf 500 Tage zu erhöhen. Mit dem Hinweis auf den enormen zusätzlichen administrativen Aufwand, welcher bei der Abklärung der Ausnahmeberechtigungen entstehen würde, plädierten auch einzelne Westschweizer Kantone sowie Bern für eine Beibehaltung von 80%. Einzig CVP und SVP fanden die Ausnahmeregelung des Bundesrates akzeptabel [52].
Auch das Parlament befasste sich bereits vor Bekanntwerden der bundesrätlichen Vorschläge mit der weiteren Ausgestaltung der ALV. In mehreren Motionen forderte die Ratslinke eine Erhöhung der Bezugsdauer, administrative Erleichterungen und die Unterstützung von Beschäftigungsprogrammen. Im Gegensatz zum Bundesrat verlangten die Sozialdemokraten dabei aber eine nach Einkommen gestaffelte Erhöhung der Taggelder auf bis zu 95% des vorherigen Lohnes. Mit Ausnahme einer abgelehnten Motion Zisyadis (pda, VD) wurden diese Vorstösse als Postulate angenommen. Zwei Postulate Maître (cvp, GE) für eine Aufhebung der Wartefristen sowie eine Erleichterung bei den Kontrollen der Arbeitslosen durch die Arbeitsämter wurden ebenfalls überwiesen [53].
Der für 1993 errechnete Fehlbetrag von 1,5 Mia Fr. im Ausgleichsfonds der ALV führte zu einer heftigen Kontroverse zwischen Bund und Kantonen. Das geltende Gesetz schreibt vor, dass Bund und Kantone die ALV zu gleichen Teilen mit Darlehen unterstützen müssen, wenn die Mittel des Ausgleichsfonds erschöpft sind und die Beiträge der Sozialpartner den Maximalsatz erreicht haben. Die Kantone erklärten sich ausserstande, in nützlicher Frist die notwendigen Gelder zu beschaffen, der Bund seinerseits wollte die Kantone nicht aus der Pflicht entlassen. Schliesslich einigte man sich darauf, dass der Bund die Darlehensmittel auch für die Kantone am Kapitalmarkt aufnehmen und den Kantonen dafür ein halbes Prozent Zins verrechnen wird [54].
Einstimmig bei einigen Enthaltungen verabschiedete die vorberatende Kommission des Nationalrates eine Gesetzesänderung, die dem Fonds der ALV erlaubt, seine Mittel direkt anzulegen. Sie erfüllte damit den Auftrag einer parlamentarischen Initiative Allenspach (fdp, ZH), welche der Rat 1991 angenommen hatte [55].
Besonders problematisch ist die Stellung der Saisonniers und der Grenzgänger in der ALV. Obwohl beide Ausländerkategorien Beiträge entrichten, gehen sie im Fall voller Arbeitslosigkeit leer aus oder müssen mit einschneidenden finanziellen Einbussen rechnen. Saisonniers, die nach Ablauf von neun Monaten in ihr Heimatland zurückkehren, erhalten keine Unterstützungen, da das Gesetz über die ALV keinen Export von Leistungen zulässt. Grenzgänger sind tendenziell besser gestellt. Aufgrund bilateraler Verträge fallen sie bei Arbeitslosigkeit in den Zuständigkeitsbereich der Arbeitslosenhilfe in ihrer Heimat, wobei die Leistungen gegenüber dem Anspruch in der Schweiz jedoch tiefer ausfallen können [56].
 
[49] Presse vom 14.11.92. Siehe auch Lit. Wild.
[50] Presse vom 25.6., 28.8. und 14.11.92 ; Die Volkswirtschaft, 65/1992, Nr. 12, S. 3.
[51] Presse vom 17.9. und 14.11.92. Siehe auch Lit. Wild.
[52] Bund, 3.11.92; BZ, 28.12.92.
[53] Amtl. Bull. NR, 1992, S. 635, 2142 ff. und 2754 f. Zwei weitere SP-Motionen (Leuenberger, SO und Hafner, SH) wurden von Allenspach (fdp, ZH) bekämpft und somit vorderhand der parlamentarischen Diskussion entzogen (Amtl. Bull. NR, 1992, S. 2740 f.).
[54] Presse vom 28.12.92.
[55] LNN, 2.4.92. Siehe SPJ 1991, S. 232 f.
[56] BaZ, 11.6.92; SN, 10.8.92; NQ, 15.9. und 22.10.92; TA, 14.11.92. Siehe auch SPJ 1991, S. 236. Für die Grenzgänger bezahlt die Schweiz Beiträge an ihre Wohnsitzstaaten, nicht aber für die Saisonniers.