Année politique Suisse 1993 : Eléments du système politique / Problèmes politiques fondamentaux et conscience nationale
 
Nationale Identität
Wichtiges Diskussionsthema im Berichtsjahr blieb nach der Ablehnung des EWR-Vertrages die Frage, auf welche Weise zwischen den verschiedenen Bevölkerungsund Sprachgruppen eine Einigung in bezug auf die zukünftige Europapolitik der Schweiz erreicht werden könnte. Der Genfer Staatsrat und alt Nationalrat Guy-Olivier Segond (fdp) wies unter anderem auch auf die Notwendigkeit hin, innerhalb der Deutschschweiz – vor allem zwischen Stadt und Land – Brücken zu schlagen [5]. Eine Tagung zum Thema "Europa als kulturelle Herausforderung" auf dem Schloss Waldegg bei Solothurn zeigte den Teilnehmern und Teilnehmerinnen auf, wie schwierig die Position der mit Schuldgefühlen behafteten Deutschschweizer gegenüber der zum Teil apodiktischen Haltung der Welschen war. Jacques Pilet, Chefredaktor des "Nouveau Quotidien", forderte zur Bewältigung der Krise namentlich eine verbesserte Kommunikation in Form eines Ausbaus des Strassen- und Schienennetzes zwischen den Regionen und der Realisierung des Swiss-Metro-Eisenbahn-Projektes sowie die systematische Förderung der Zweisprachigkeit an den Schulen [6].
Ähnliche Forderungen wurden an einer Tagung in Lausanne auch von den "Rencontres suisses", einer Gruppe von Wissenschaftern und Intellektuellen, gestellt. In ihren Augen muss sich die Förderung des nationalen Zusammenhalts und des Heimatgefühls am Ziel einer gemeinsamen Zukunft orientieren [7]. Einzelne Gemeinden, welche zum Teil schon vor der EWR-Abstimmung sprachübergreifende Gemeinde- oder Städtepartnerschaften eingegangen waren, engagierten sich konkret für die kulturelle Verständigung, indem sie einen Schüleraustausch oder gegenseitige Behördenbesuche organisierten [8].
Auf der Suche nach verschiedenen Gründen der Ablehnung des EWR-Vertrages durch eine Mehrheit der Deutschschweizer stiessen politische Beobachter auf die Bedeutung des Heimatgefühls, das für viele Stimmende in der Deutschschweiz entscheidend für die Ablehnung des EWR-Vertrages gewesen war. Viele Romands wurden sich bewusst, dass in der Vielschichtigkeit des Begriffs "Heimat", der im Französischen nur auf umständliche Weise umschrieben werden kann, einer der kulturellen Unterschiede zwischen der alemannischen und der welschen Bevölkerung begründet ist. Kultur- und Medienschaffende der Romandie stellten auch einen verstärkten Trend zur Herstellung eines Heimatbezugs in der Musik und im Kinoschaffen von Deutschschweizern fest. Im Gegensatz zur Romandie schienen ihnen die Intellektuellen und die Jungen ebenso wie die andern sozialen Schichten und Altersklassen in der Deutschschweiz den Mythen um Berge und Heimat stark verbunden [9].
Nach der Verwerfung des EWR-Vertrages in der Volksabstimmung vom 6. Dezember 1992 hatte das Parlament Spezialkommissionen zur Verständigung zwischen den Sprachgebieten bestellt. Die Aufgabe der 15 National- und acht Ständeräte bestand darin, Vorschläge zur Überbrückung der kultur- und sprachpolitischen Gräben auszuarbeiten. In ihrem Bericht forderten die Verständigungskommissionen unter anderem eine Totalrevision der Bundesverfassung, eine zukunftsgerichtete 150-Jahr-Feier des Bundesstaats sowie eine Landesausstellung im Jahre 2000, welche ein Begegnungsort für die verschiedenen Kultur- und Sprachgemeinschaften werden soll. Insbesondere im Geschichtsunterricht sollte das Augenmerk vermehrt auf die Bundesstaatsgründung und die Geschichte der modernen Schweiz gerichtet werden [10].
Der Ständerat überwies eine gemeinsame, auf der Basis eines Zwischenberichts erarbeitete Motion der beiden Verständigungskommissionen, welche vom Bundesrat verlangt, bei allen Beschlüssen der sprachlichen und regionalen Verständigung innerhalb der Schweiz besondere Beachtung zu schenken. Verschiedene Redner wiesen in ihren Erwägungen auf den verstorbenen Schriftsteller Dürrenmatt hin, der schon vor Jahren festgestellt hatte, dass die deutsche und die französische Schweiz längst nicht mehr miteinander, sondern nur gerade nebeneinander leben [11].
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"1. August-Initiative"
Ohne lange Diskussionen hiessen National- und Ständerat die von den Schweizer Demokraten am 25. Oktober 1990 eingereichte Volksinitiative "Für einen arbeitsfreien Bundesfeiertag" mit 62 zu 2 resp. 22 zu 6 Stimmen gut. In bezug auf den Begriff arbeitsfrei, welcher im Initiativtext nur ungenau definiert war, wies der Kommissionssprecher der kleinen Kammer darauf hin, dass dieser Feiertag gemäss Bundesrat nicht kompensiert wird, falls er auf einen Sonntag fällt, dass er aber von Arbeitnehmern kompensiert werden kann, wenn er in den Ferien auf einen andern Tag als auf den Sonntag fällt [12].
Obwohl die Schweizer Demokraten mit der Lancierung der Initiative patriotische Ziele verfolgten, war ihr Vorschlag praktisch unbestritten, da auch die Attraktivität eines zusätzlichen Feiertages sowie der Aspekt der einheitlichen Regelung eine wichtige Rolle im Entscheidprozess spielten. Bis anhin war der 1. August in den Kantonen Zürich, Schaffhausen, Thurgau, Tessin und Genf ein Feiertag, während in den andern Kantonen entweder halbtags oder bis vier Uhr gearbeitet wurde. Im Vorfeld der Abstimmung gaben einzig die allfälligen Kosten für die Arbeitgeber Anlass zu Diskussionen [13].
Für die Volksabstimmung gaben alle Parteien ausser den Grünen und der LP die Ja-Parole heraus. Für die Liberalen bedeutete die Bundeskompetenz einen zu starken Eingriff in den Föderalismus, weshalb sie das Begehren ablehnten; die Grünen entschlossen sich für Stimmfreigabe, weil sie keine Initiative aus der rechtsnationalistischen Ecke unterstützen wollten. In der SP sorgte der Umstand, dass zwölf sozialdemokratische Abgeordnete im Abstimmungskomitee zusammen mit Mitgliedern oder Sympathisanten der Schweizer Demokraten vertreten waren, für Unmut. Die Gewerkschaften empfahlen die Ja-Parole, während sich der Arbeitgeber- und der Gewerbeverband wegen der Belastung der Wirtschaft durch einen zusätzlichen Feiertag bei voller Lohnzahlung gegen die Initiative stellten [14].
Volksinitiative "für einen arbeitsfreien Bundesfeiertag". Abstimmung vom 26. September 1993
Beteiligung: 39,9%
Ja: 1 492 285 (83,8%) / 20 6/2 Stände
Nein: 289 122 (16,2%)

Parolen:
Ja: FDP (*6), SP, CVP (*3), SVP (*2), AP, SD, LdU, EVP, PdA, EDU, Lega; SGB, CNG.
Nein: LP (*2); ZSAO, SGV.
Stimmfreigabe: GP (*3).
* In Klammern Anzahl abweichender Kantonalsektionen
In der Abstimmung vom 26. September befürworteten 83,8% der Stimmenden die Initiative, wobei alle Kantone zustimmten. Der Kanton Appenzell Innerrhoden, der schon überdurchschnittlich viele Feiertage kennt, unterstützte die Initiative mit 59,3% am knappsten, während das Tessin und Genf mit 92,9% resp. 90,2% am deutlichsten zustimmten [15].
Gemäss der Vox-Analyse ergaben sich bei den sozio-demographischen Merkmalen nur relativ geringe Unterschiede in der Zustimmung. Paradoxerweise stimmten die Wähler und Wählerinnen aus dem linken Spektrum der von den SD lancierten Initiative viel stärker zu, als jene aus dem rechten Teil, was wiederum auf die unterschiedliche Bedeutung der Initiative zurückzuführen war. Den einen ging es vor allem um einen zusätzlichen bezahlten arbeitsfreien Tag, den anderen um den Bundesfeiertag. Der positive Ausgang der Volksabstimmung konnte demzufolge kaum als Sieg der Rechtsparteien interpretiert werden [16].
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Landesausstellung und Jubiläumsfeier
Der Kanton Wallis schlug im Anschluss an die Erwägungen der Verständigungskommissionen vor, die Landesausstellung im Kantonshauptort Sion zu organisieren. Aber auch die Kantone Genf, Neuenburg und Tessin machten sich für eine Landesausstellung 2000 auf ihrem Gebiet stark. Die Genfer Regierung präsentierte eine Vorstudie, welche vorsieht, die Trilogie Leben, Denken und Schaffen spielerisch darzustellen. Während das Projekt eines Walliser Komitees unter dem Titel "Demopolis 2000" eine Zukunftsstadt von ca. 60 Hektaren Fläche beim Kantonshauptort Sion vorsieht, plant ein Neuenburger Komitee eine eher konventionelle Ausstellung mit Kantons-, Bundes- und Europapavillons, verteilt zwischen dem Seeufer und dem Passübergang Vue des Alpes [17].
Gegen Ende des Berichtsjahres präsentierte die Tessiner Regierung ihr dezentrales Konzept für eine Landesausstellung im Jahr 1998. Die von Stararchitekt Mario Botta präsidierte Arbeitsgruppe sieht vor, auf drei grenzüberschreitenden Seen der drei Kulturräume, dem Boden-, dem Genfer- und dem Langensee, Ausstellungen zu den drei gesellschaftlichen Grundaspekten Frieden, Leben und Wissen zu organisieren [18].
In Beantwortung einer Interpellation Iten (fdp, ZG) zu den Vorbereitungsarbeiten der 150-Jahr-Feier des Bundesstaates antwortete Bundesrätin Dreifuss, dass erste Projektskizzen im Bundesamt für Kultur ausgearbeitet würden. Es stünde auch schon fest, dass das Landesmuseum, welches im Jubiläumsjahr nicht nur sein 100jähriges Bestehen, sondern auch die Eröffnung des Westschweizer Ablegers in Prangins (VD) feiern kann, in die Feierlichkeiten einbezogen wird. Ständerat Iten unterstrich in seiner Begründung, dass das Jubiläumsjahr 1998 zum Gedenken an die Bundesstaatsgründung vor 150 Jahren sowie als Markstein des Endes der Alten Eidgenossenschaft 1798 respektive des Beginns der Helvetik vor 200 Jahren einen historischen Rückhalt für die gesamte Eidgenossenschaft darstellt, im Gegensatz zum 700-Jahr-Jubiläum im Jahre 1991 [19].
Eine wissenschaftliche Arbeit über Nationalismus im Rahmen der Bundesfeierlichkeiten zeigte auf, wie schwierig die Zielsetzungen der Bundesfeiern bei der 700-Jahr-Feier mit jenen der Vorbereitungen zur EWR-Abstimmung in Einklang zu bringen waren. Patriotismus, Nationalismus und Sonderfalldenken konnten gemäss dieser Studie im Rahmen der Feierlichkeiten eine Eigendynamik entwickeln, die durch die vorwiegend auf rationaler Ebene geführte Argumentation der EWR-Befürworter nicht mehr gebremst werden konnte [20].
 
[5] BZ, 4.1.93.
[6] TA, 8.5.93; siehe auch Lit. Bloch und Cotti.
[7] TA, 29.7.93; BaZ, 31.7.93.
[8] LNN, 16.3.93; TA, 29.6.93. Siehe auch LNN, 27.11.93 und 24 Heures, 29.11.93.
[9] NQ, 26.3. und 7.9.93. Zur Erklärung der Ablehnung des EWR siehe auch Vox, Analyse der eidgenössischen Abstimmung vom 6. Dezember, Genf 1993 sowie unten, Teil I, 2 (Europe) und SPJ 1992, S. 16 f. und 72.
[10] Kommission: TA, 11.2.93; NZZ, 2.4.93; SPJ 1992, S. 17. Bericht: BBl, 1994, I, S. 17 ff. ; NZZ und Bund, 23.10.93; Suisse, 23.11.93. Allgemeines zum Verhältnis Deutschschweiz-Romandie siehe auch TAM, 6.2.93.
[11] Amtl. Bull. StR, 1993, S. 1032 ff.; Presse vom 15.12.93; TA, 16.12.93. Zur Session der Bundesversammlung in Genf vgl. unten, Teil I, 1c (Parlament).
[12] Amtl. Bull. NR, 1993, S. 76 ff. und 1451; Amtl. Bull. StR, 1993, S. 310 f. und 580; BBl, 1993, II, S. 871 f. Siehe auch SPJ 1992, S. 16.
[13] TA, 31.7.93.
[14] TA, 9.9.93.
[15] BBl, 1993, IV, S. 266; Presse vom 27.9.93.
[16] Vox, Analyse der eidgenössischen Abstimmungen vom 26. September 1993, Genf 1993.
[17] NZZ, 14.5.93; TA, 8.9.93. Zu Genf siehe auch Suisse, 22.8. und 22.10.93, zum Wallis NF und NQ, 12.5. und 2.9.93.
[18] NZZ und TA, 29.12.93.
[19] Amtl. Bull. StR, 1993, S. 738 ff.; LZ und BaZ, 7.10.93.
[20] Lit. Hugelshofer; siehe auch BZ, 21.7.93.