Année politique Suisse 1993 : Politique sociale / Santé, assistance sociale, sport / Gesundheitspolitik
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Aids
Im Berichtsjahr wurden dem BAG 684 neue Aids-Fälle gemeldet. Darunter befanden sich 531 Männer und 153 Frauen. In 240 Fällen handelte es sich um homo- oder bisexuelle Männer (35,1 %) und in 293 Fällen um Drogensüchtige (42,8%, davon 198 Männer und 95 Frauen). Aids ist heute zur zweithäufigsten Todesursache der 25- bis 44jährigen geworden [24].
Laut einer Umfrage des BAG haben sich bis Herbst 1992 in der Schweiz fast die Hälfte aller Einwohnerinnen und Einwohner im Alter von 17 bis 45 Jahren einem oder mehreren Aids-Tests unterzogen. Damit liegt der Anteil der getesteten Personen (47%) erheblich höher als in anderen Ländern (Frankreich 22,2%, Grossbritannien 15,3%). Mit 55% liessen sich die Männer deutlich mehr testen als Frauen (39%), was unter anderem auf die Tests bei der Blutspende im Militärdienst zurückgeführt wurde [25].
Derartige freiwillige Tests geben laut BAG nur unzureichende Angaben über die Ausbreitung des HIV in der Allgemeinbevölkerung. Auf seinen Antrag setzte der Bundesrat im Spätsommer eine Verordnung in Kraft, welche inskünftig anonyme Massentests in ausgewählten Spitälern der Schweiz zulässt. Diese Tests werden ausschliesslich mit Blutproben durchgeführt, die Patientinnen und Patienten zu anderen medizinischen Zwecken entnommen werden. Die Proben werden anonymisiert und von vorgegebenen Teststellen – die mit den Entnahmestellen nicht identisch sein dürfen – auf HIV untersucht. Aus Datenschutzgründen kann keine getestete Person über ein allfällig positives Resultat in Kenntnis gesetzt werden. Patientinnen und Patienten haben das Recht, die Teilnahme am Test zu verweigern. Von diesen Massentests verspricht sich das BAG wertvolle Hinweise auf die Entwicklung der HIV-Infektion in der Bevölkerung, welche erlauben würden, auf mögliche Veränderungen durch gezielte Präventionsmassnahmen zu reagieren. Die "Aids-Hilfe Schweiz" und der Dachverband "People with Aids" kritisierten demgegenüber, in der Prävention dringend benötigte Mittel würden so für statistische Untersuchungen ausgegeben, deren Resultate durch die freiwilligen Tests tendenziell bereits bekannt seien [26].
Im Frühjahr setzte Bundesrat Cotti eine dreiköpfige Arbeitsgruppe ein mit dem Auftrag, abzuklären, unter welchen Umständen und in welchem Umfang Patienten durch Transfusionen von Blutpräparaten möglicherweise mit dem HI-Virus infiziert wurden. Nach Angaben des Departements des Innern (EDI) sollen die Experten feststellen, ob bei den meist vor dem Jahr 1985 erfolgten Infektionen die gesetzlichen Bestimmungen eingehalten wurden bzw. der ärztlichen Pflicht nachgelebt wurde. Überprüft werden soll namentlich die Arbeitsteilung zwischen den Bundesämtern für Gesundheitswesen (BAG) und Sozialversicherung (BSV), der Interkantonalen Kontrollstelle für Heilmittel (IKS) und dem Roten Kreuz (SRK). Ziel ist laut EDI, für die Zukunft Verantwortlichkeit und Strukturen festzulegen, die eine rasche Reaktion der Behörden im Bereich der Blutprodukte sicherstellen [27].
Diese Fragestellung erhielt durch den Blutskandal in Deutschland, wo in noch ungewissem Ausmass ungenügend kontrollierte Blutkonserven in die Spitäler gelangten, neue Aktualität, besonders als bekannt wurde, dass nicht auszuschliessen sei, dass einzelne dieser Blutpräparate auch in die Schweiz eingeführt worden seien. Keine der darauf angesprochenen Behörden (IKS, BAG, Kantonsärzte bzw. -apotheker) konnte mit letzter Klarheit die Frage beantworten, ob, wann und wo problematische Blutpräparate importiert und allenfalls verwendet worden seien. Diese völlig unklaren Kompetenzen erhärteten den Ruf nach einer zentralisierten Kontrollinstanz [28].
Erste Resultate der Ende des Vorjahres vom SRK angekündigten "Look-back"-Studie zur Ermittlung jener Personen, die vor 1985 durch eine verseuchte Blutkonserve mit dem HI-Virus kontaminiert wurden, zeigten, dass von den zwei Millionen Bluttransfusionseinheiten, die den Schweizer Spitälern zwischen 1982 und 1985 ausgeliefert wurden, 303 eventuell HIV-verseucht waren, wobei vorerst unklar blieb, wie viele von ihnen an Patienten abgegeben wurden. Zudem hatte das SRK im gleichen Zeitraum über 80 möglicherweise HIV-infizierte Blutkonserven nach New York, Griechenland und Saudiarabien exportiert. Im Spätsommer gestand das SRK erstmals ein, noch während zehn Monaten nach der Einführung eines zuverlässigen Aids-Tests unkontrollierte Blutpräparate abgegeben zu haben. Das SRK schloss nicht aus, dass von den zwischen Juli 1985 und April 1986 ausgelieferten 5800 Fläschchen mit Gerinnungspräparaten unter Umständen rund tausend mit dem HI-Virus kontaminiert gewesen seien. Es begründete sein damaliges Vorgehen mit einem drohenden Versorgungsengpass bei den für Hämophile lebenswichtigen Produkten [29].
Noch bevor konkrete Zahlen aus dem "Look-back" vorlagen, stellte das SRK den neu gegründeten Aids-Solidaritätsfonds vor, der mit einem Aufpreis von knapp 5% auf Blutkonserven finanziert wird. Laut dem Fonds-Reglement erhält Beiträge, wer erwiesenermassen mit dem Aids-Virus infizierte Blut- oder Plasmapräparate des SRK-Blutspendedienstes erhalten hat, indirekt durch einen Empfänger eines infizierten Präparates angesteckt wurde oder gegenüber einer direkt oder indirekt angesteckten Person unterhaltspflichtig ist. Die SRK-Beiträge sollen den Betroffenen in Ergänzung zu Versicherungs- und Fürsorgeleistungen die Weiterführung eines menschenwürdigen Lebens ermöglichen. Die SRK-Entschädigungen werden ohne Rechtspflicht im Sinne einer sozialen Massnahme erbracht [30].
Ein Gutachten des Bundesamtes für Justiz kam zum Schluss, dass die Abgabe steriler Spritzen im Strafvollzug rechtlich zulässig und als aidspräventive Massnahme sogar geradezu geboten sei. Das Gutachten war im Auftrag des BAG erstellt worden, welches bereits zwei Jahre zuvor die mangelnde Aids-Prophylaxe in den Strafanstalten kritisiert hatte [31].
 
[24] 24 Heures, 30.10.93; Presse vom 1.2.94.
[25] BAG-Bulletin, 1993, S. 262 ff.; Presse vom 21.4.93.
[26] Presse vom 7.7.93. Siehe auch SPJ 1992, S. 213.
[27] Presse vom 24.3.93; NQ, 23.4.93; Ostschweiz, 22.5.93; TG, 7.8.93. Siehe dazu auch die Stellungnahme des BR in Amtl. Bull. NR, 1993, S. 2013 f. und 2054.
[28] Presse vom 5.11. und 16.11.93; BZ, 18.11.93. Die SRK-Bluspendezentren verpflichteten sich, ihr frischgefrorenes Blutplasma ab 1994 durch die Verwendung einer neuen Testmethode noch HIV-sicherer zu machen (Bund, 20.11.93; NZZ, 27.11.93).
[29] BZ, 29.1.92; Presse vom 30.4., 15.5., 5.6. und 9.8.93; Ww, 20.5.93; NQ, 26.8.93; NZZ, 23.9.93. Siehe auch SPJ 1992, S. 213.
[30] NZZ, 27.3.93.
[31] BZ und LNN, 24.3.93. Siehe auch SPJ 1991, S. 213.