Année politique Suisse 1993 : Politique sociale / Santé, assistance sociale, sport / Suchtmittel
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Tabak und Alkohol
In der Frühjahrssession wurden die Zwillingsinitiativen für eine Verminderung der Tabakprobleme und für eine Verminderung der Alkoholprobleme, die ein völliges Werbeverbot für Tabak und Alkohol verlangten, vom Ständerat, welcher das Geschäft als Erstrat behandelte, klar verworfen. Die kleine Kammer erachtete den Einfluss der Werbung auf das Konsumverhalten insbesondere der Jugend als nicht erwiesen und betonte die negativen materiellen Auswirkungen der Initiativen auf die Werbebranche und das kulturelle Sponsoring. Vergeblich appellierte Bundesrat Cotti an den Rat, zumindest auf den moderateren Gegenvorschlag des Bundesrates einzutreten, welcher nur die Plakat- und Kinowerbung verbieten, die informierende Werbung in den Printmedien und an den Verkaufsstellen sowie das Sponsoring unter gewissen Auflagen jedoch zulassen wollte. Gegen die engagierten Voten von Meier (cvp, LU), Onken (sp, TG) und Schiesser (fdp, GL), die sich für den Jugendschutz stark machten und an die menschlichen und volkswirtschaftlichen Folgen übermässigen Alkohol- und Tabakkonsums erinnerten, wurde auch dieser Vorschlag deutlich abgelehnt. Ihm warfen die Gegner jeglicher Werbebeschränkung vor, nicht praktikabel zu sein und der Werbebranche jährlich Aufträge in der Höhe von 100 bis 150 Mio Fr. zu entziehen [56].
Da aber in der Debatte praktisch alle Votanten die gesundheitsschädigende Wirkung des Rauchens unterstrichen hatten, überwies der Rat eine Motion seiner vorberatenden Kommission, welche den Bundesrat auffordert, eine Vorlage auszuarbeiten, damit aus der Tabaksteuer ein angemessener Anteil für Gesundheitserziehung und Prävention zur Verfügung gestellt werden könne, wobei die Leistung nicht zu Lasten der Ablieferung an die AHV/IV gehen dürfe. Gegen den Willen des Bundesrates, der darauf hinwies, dass dafür eine Verfassungsänderung notwendig wäre, da Art. 34quater BV alle Mittel aus der Tabaksteuer zweckgebunden der AHV und IV zuweist, wurde die Motion, wenn auch nur knapp, angenommen [57].
Der Nationalrat übernahm praktisch die Argumentation des Ständerates und lehnte ebenfalls sowohl die Initiativen als auch den bundesrätlichen Gegenvorschlag deutlich ab. Bei der ständerätlichen Präventions-Motion setzte sich hingegen der Bundesrat durch und erreichte eine Überweisung in der unverbindlichen Form des Postulates [58].
Bei dieser Ausgangslage hatten die beiden Initiativen in der Volksabstimmung keine Chance, umso mehr als die Gegner der Initiativen — in erster Linie die Tabakindustrie und die Werbung — weder Mittel noch Wege scheuten, um die Initiativen, die sie in erster Linie als werbe- und arbeitsplatzfeindlich darstellten, zu Fall zu bringen. Dabei fanden sie die nahezu uneingeschränkte Unterstützung der Printmedien, welche sich in Zeiten ohnehin rückläufigen Inseratevolumens unmissverständlich auf die Seite ihrer potenten Auftraggeber stellten. Gegen die Initiativen sprach sich aber auch ein " Schweizerisches Aktionskomitee gegen unbrauchbare Werbeverbote" aus, in welchem sich 150 Bundesparlamentarier und -parlamentarierinnen aus allen grösseren Parteien zusammenschlossen. Dem Präsidium gehörten neben Nationalrätin Heberlein (fdp, ZH), Ständerat Delalay (cvp, VS) und Nationalrätin Zölch (svp, BE) auch der Basler SP-Nationalrat Hubacher an, der sich in dieser Frane gegen die Meinung seiner Partei stellte [59].
Die einzige Überraschung des Abstimmungsresultates lag denn auch in seiner Deutlichkeit. 1979 hatten sich noch 41% der Stimmenden für ein analoges Volksbegehren ("Guttempler-Initiative") ausgesprochen, Basel-Stadt sogar mit mehr als 50%. Besonders massiv wurden die beiden Initiativen in der Westschweiz (mit Ausnahme von Genf) und im Kanton Schwyz abgelehnt, wo sich über vier Fünftel der Urnengängerinnen und Urnengänger gegen sie aussprachen. Am "verbotsfreundlichsten" zeigten sich die Kantone Basel-Stadt und Zürich mit rund 33% bzw. 31% Ja-Stimmen [60].
Volksinitiative "zur Verhinderung der Alkoholprobleme". Abstimmung vom 28. November 1993
Beteiligung: 44,7%
Nein: 1 527 165 (74,7%) / 20 6/2 Stände
Ja: 516 054 (25,3%) / 0 Stände

Parolen:
– Nein: FDP, CVP (4*), SVP, LP, AP, Lega; Vorort, SGV
– Ja: SP (3*), GP, PdA (1*), LdU (3*), EVP, EDU, SD (3*)
* In Klammer Anzahl abweichender Kantonalsektionen
Volksinitiative "zur Verminderung der Tabakprobleme". Abstimmung vom 28. November 1993
Beteiligung: 44,7%
Nein: 1 521 885 (74,5%) / 20 6/2 Stände
Ja: 521 433 (25,5%) / 0 Stände

Parolen:
Nein: FDP, CVP (3*), SVP, LP, AP, Lega; Vorort, SGV
Ja: SP (3*), GP, PdA (1*), LdU (3*), EVP, EDU, SD (3*)
* In Klammer Anzahl abweichender Kantonalsektionen
Wie die Vox-Analyse dieser Abstimmung zeigte, fanden die beiden Initiativen bei den Frauen erheblich mehr Zustimmung als bei den Männern. Seit dem Beginn der Vox-Analysen 1977 wurde nie eine so grosse Differenz zwischen dem Stimmverhalten der Frauen und der Männer – 18% beim Tabakverbot – beobachtet. Tiefe Ja-Anteile ergaben sich in der jüngsten Alterskategorie, in der Romandie und in den ländlichen Gebieten. Besonders im rot-grünen Lager beeinflusste der politische Standort das Stimmverhalten nur teilweise. Einzig die Gefolgschaft von LdU/EVP stimmte beiden Initiativen zu, die Grünen nahmen nur die Tabakinitiative an, während die Anhänger der SP mehrheitlich nicht der Parteiparole folgten. Die meistgenannten Motive zur Verwerfung der Initiativen waren die Angst vor zusätzlicher Arbeitslosigkeit und die Überzeugung, dass ein Verbot wirkungslos wäre bzw. durch ausländische Medien umgangen würde [61].
Wie vor ihm bereits der Nationalrat, überwies auch der Ständerat nach kurzer Diskussion den unbestrittenen Teil einer Motion Gonseth (gp, BL), welcher verlangt, dass zur Verminderung der alkoholbedingten Opfer des Strassenverkehrs so rasch als möglich die gesetzlichen Grundlagen zur Durchführung systematischer Atemluftkontrollen geschaffen werden [62].
Das Eidg. Versicherungsgericht (EVG) entschied in einem neuen Grundsatzurteil, dass sich eine Person, die durch Alkohol- oder Tabakmissbrauch zum Invaliden wird, inskünftig keine IV-Rentenkürzung mehr gefallen lassen muss. Das EVG berief sich dabei auf zwei internationale Abkommen, welche die Kürzung einer Invalidenrente nur zulassen, wenn jemand seine Gesundheit absichtlich geschädigt hat. Nach Auffassung des EVG ist äusserst fraglich, ob bei chronischem Missbrauch von Alkohol und Tabak überhaupt je von absichtlichem Selbstverschulden die Rede sein kann [63].
 
[56] Amtl. Bull. StR, 1993, S. 19 ff., 451 und 580.
[57] Amtl. Bull. StR, 1993, S. 33 ff.
[58] Amtl. Bull. NR, S. 890 ff., 908 (Motion) und 1451.
[59] NQ, 30.6.93; CdT, 1.7.93; Presse vom 8.9., 15.10., 27.10., 11.11. und 22.-26.11.93; NZZ, 20.10., 5.11., 12.11. und 19.11.93; WoZ, 29.10.93; TA, 1.11. und 20.11.93; LZ, 6.11.93; JdG, 20.11.93.
[60] BBl, 1994, I, S. 469 ff.; Presse vom 29.11.93.
[61] Vox, Analyse der eidgenössischen Abstimmungen vom 28. November 1993, Adliswil 1994.
[62] Amtl. Bull. StR, 1993, S. 543 f. Siehe auch SPJ 1992, S. 220 f.
[63] BZ, 16.9.93.