Année politique Suisse 1993 : Politique sociale / Santé, assistance sociale, sport / Fürsorge
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Neue Armut
Die Rezession und die steigende Zahl der ausgesteuerten Langzeitarbeitslosen verstärkte den Druck auf die Fürsorgeämter weiter. 160 000 bis 180 000 Personen waren nicht mehr in der Lage, ihre Existenz selber zu bestreiten. Angesichts der Finanzknappheit der öffentlichen Hand wurden die Voraussetzungen für eine wirksame Sozialhilfe immer schwieriger [64].
Das Problem der neuen Armut im eigenen Land scheint die Schweizer Bevölkerung weit weniger zu beschäftigen als das Elend in der Dritten Welt. Nur gerade 5 Mio Fr. brachte ein Aufruf der Glückskette von Radio und Fernsehen für die einheimischen Bedürftigen, rund viermal weniger als im Vorjahr eine Sammlung zugunsten der hungernden Bevölkerung in Somalia. Die Verantwortlichen der Hilfsaktion erklärten sich die unterschiedliche Spendefreudigkeit damit, dass es der reichen Schweiz noch nicht ins Bewusstsein gedrungen sei, dass (relative) Armut auch hierzulande heute ein recht weit verbreitetes Phänomen ist [65].
Aus einer Einzelinitiative eines Neuenburger Journalisten entstand in der Romandie ein erstes Netzwerk, welches völlig unbürokratisch und mit freiwilligen Helfern Pakete mit Lebensmitteln und Hygienprodukten, sogenannte "cartons du coeur" an jene Menschen verteilt, die durch die Maschen des Sozialnetzes gefallen sind. Die Aktion, die zu Beginn des Jahres recht bescheiden begann, trat in der Westschweiz einen eigentlichen Siegeszug an. Bis Mitte August wurden schon über 23 Tonnen Hilfsgüter an Bedürftige verteilt [66].
Für Überlegungen zur Einführung eines verfassungsmässig garantierten Mindesteinkommens siehe unten, Teil I, 7c (Grundsatzfragen).
 
[64] SoZ, 29.8.93; TA, 24.9.93; Presse vom 13.10. und 5.11.93.
[65] Bund, 15.6.93.
[66] NQ, 7.5.93; Bund und SGT, 13.8.93