Année politique Suisse 1993 : Politique sociale / Assurances sociales / Alters- und Hinterbliebenenversicherung
Mit der Verabschiedung des zweiten, gewichtigeren Teils der 10. AHV-Revision erreichte der
Nationalrat in der Frühjahrssession bei diesem komplexen Geschäft eine wichtige Etappe, wobei der Revisionsentwurf gegenüber dem bundesrätlichen Vorschlag bereits von der vorberatenden Kommission stark verändert worden war. Wichtigste
Neuerung gegenüber den Bundesratsvorschlägen sowie den Beschlüssen des Ständerates war die Einführung eines Splittingmodells zivilstandsneutraler Renten mit Betreuungs- und Erziehungsbonus
[10].
Die Vorlage war in ihrer revidierten Form im Plenum mehrheitsfähig, was auch in der deutlichen Ablehnung von vier Rückweisungsanträgen zum Ausdruck kam. Insbesondere wurde ein Antrag Wick (cvp, BS) auf Rückweisung an die Kommission mit dem Auftrag, unter Beibehaltung des Splittingsystems und der wesentlichen Errungenschaften der 10. AHV-Revision (inklusive Erziehungs- und Betreuungsbonus) kostenneutral auf das System der Einheitsrente überzugehen, verworfen. Bereits in seinem Eintretensvotum hatte Kommissionspräsident Allenspach (fdp, ZH) Splitting und Einheitsrente als unvereinbar bezeichnet und darauf hingewiesen, dass ein kostenneutraler Übergang zur Einheitsrente eine Senkung der heutigen Maximalrente um 20% zur Folge hätte und für mindestens 45% der Rentnerinnen und Rentner zu finanziellen Einbussen führen würde.
Sowohl in der Eintretens- wie in der Detailberatung wurde das Splitting von keiner Seite grundsätzlich in Frage gestellt. Zu Diskussionen Anlass gab die Beschränkung der Summe der Renten eines Ehepaares auf 150% der maximalen Einzelrente. Anträge zur Gleichstellung von Ehe- und Konkubinatspaaren sowie zur Anhebung des Plafonds auf 160% wurden vom Rat gleichermassen abgelehnt.
Der umstrittenste Punkt der Diskussionen war die von der Kommissionsmehrheit vorgeschlagene zweischrittige, erstmals vier Jahre nach dem Systemwechsel fällig werdende Erhöhung des
Rentenalters der Frauen von 62 auf 64 Jahre. Nach heftiger Debatte, in welcher die bürgerlichen Verfechter des höheren Rentenalters den Grundsatz der Gleichstellung der Geschlechter, die rot-grünen Gegner die nach wie vor bestehende Doppelbelastung sowie die anhaltende Lohndiskriminierung der Frauen ins Feld führten, stimmte die grosse Kammer unter Namensaufruf mit 101 zu 68 Stimmen bei sechs Enthaltungen der stufenweisen Erhöhung des Rentenalters der Frauen zu. Entsprechend modifizierte der Nationalrat die vom Bundesrat vorgeschlagene Regelung des Rentenvorbezugs. So sollen neu Männer ab dem 63. und Frauen ab dem 62. Altersjahr bei einer versicherungstechnischen Kürzung von 6,8% pro vorbezogenes Jahr eine frühzeitige Rente erhalten können. In Ausführung des Gleichstellungsartikels in der Bundesverfassung wurde eine Witwerrente eingeführt. Allerdings soll sie nur jenen Witwern zukommen, die Kinder unter 18 Jahren zu betreuen haben, während bereits die heutige Witwenrente als zusätzliche Anspruchsberechtigung eine mindestens zehnjährige Ehedauer nennt
[11].
Im Anschluss an die Beratungen wurde ein Postulat einer Kommissionsminderheit Haller (sp, BE), welches die Prüfung der Angleichung des Rentenalters auf die 11. AHV-Revision verschieben wollte, konsequenterweise abgelehnt, ein weiteres Postulat einer Kommissionsminderheit Spoerry (fdp, ZH), das den Bundesrat einlädt, verschiedene Punkte des Splittings zuhanden der Verhandlungen des Ständerates genauer zu überprüfen, hingegen überwiesen
[12].
Eine Frau, die sich bereits im Vorfeld der parlamentarischen Debatte vehement für die Beibehaltung des bisherigen Rentenalters der Frauen eingesetzt hatte, war SGBSekretärin Ruth Dreifuss. In einem Zeitungsinterview vertröstete sie die Frauen darauf, dass in der Nachfolge des zurücktretenden Bundesrats Felber vielleicht eine Frau in den Bundesrat gewählt würde, welche hier entscheidenden Einfluss nehmen könnte. Wenige Wochen später war sie die neue Magistratin im Siebner-Gremium und zudem Vorsteherin des für die AHV-Revision zuständigen EDI – und konnte das Steuer dennoch nicht herumreissen. Nachdem der Bundesrat anlässlich der Beratungen der 10. AHV-Revision im Nationalrat entgegen seiner ursprünglichen Haltung erklärt hatte, die Erhöhung des Rentenalters der Frauen auf 64 Jahre sei ein gangbarer Weg, dem er sich nicht widersetzen werde, versuchte Dreifuss zwei Monate später vergeblich, die Landesregierung zu bewegen, auf ihren Entscheid zurückzukommen und die Frage des Rentenalters der Frauen auf die 11. AHV-Revision zu verschieben. Die Kollegen von Dreifuss begründeten ihre Meinungsänderung damit, dass Unnachgiebigkeit in dieser Frage die Einführung des Splittings verzögern würde
[13].
Die
Kommission des Ständerates, welcher 1991 der 10. AHV-Revision gemäss bundesrätlichem Vorschlag (ohne Rentensplitting und ohne Erhöhung des Rentenalters der Frauen) zugestimmt hatte, konnte sich weiterhin nicht für die neue Rentenformel erwärmen. Auf Kritik stiess vor allem die ungleiche Behandlung von Alt- und Neurentnerinnen und -rentnern, die Konkubinatsfreundlichkeit des nationalrätlichen Vorschlags, die mangelnde Transparenz der Rentenberechnung und die zusätzliche Belastung der Vollzugsorgane. Die vom Zuger CVP-Ständerat Kündig präsidierte Kommission griff im Sommer die seit einiger Zeit in CVP-Kreisen diskutierte Idee einer
Einheitsrente auf und beauftragte das BSV, innert Monatsfrist einen diesbezüglichen Bericht vorzulegen. Obgleich der Bericht die Schwachstellen einer Einheitsrente (durchschnittlich tiefere Renten, einseitige Aufwertung der Beitragsdauer gegenüber der Beitragshöhe, starkes Anwachsen der Solidaritätskomponente der höheren Einkommensklassen) verdeutlichte, beharrte die Ständeratskommission auf ihrem Standpunkt, zumindest vorderhand gleichzeitig mit Verbesserungen beim Splitting (Zuschlag auf Alters- und Invalidenrenten für verwitwete Personen) auch das Modell der Einheitsrente weiterzuverfolgen
[14].
Auf den 1. Januar des Berichtsjahres trat der erste,
vorgezogene Teil der 10. AHV-Revision in Kraft. Den unteren Einkommen bescherte dies, zusammen mit dem Teuerungsausgleich von 4,4%, Rentenerhöhungen bis zu 13,4%. Neu eingeführt wurde auch die hälftige Ausbezahlung der Ehepaarrenten sowie die Hilflosenentschädigung bereits bei mittlerer Hilflosigkeit
[15].
[10] Zur Frage des Splittings vgl. die Stellungnahmen der beiden Kommissionsmitglieder Allenspach (fdp, ZH) und Haller (sp, BE) in Soziale Sicherheit, 1993, Nr. 3, S. 2 ff. sowie Lit. Brechbühl. Siehe dazu auch SPJ 1991, S. 226 f. und 1992, S. 227 ff.
[11] Amtl. Bull. NR, 1993, S. 207 ff., 246 ff. und 282 ff.; Presse vom 28.1. und 12.3.93; Bund, 30.1., 6.3. und 10.3.93; wf, Dok., 1993, Nr. 9 und Nr. 31. FDP und SVP hatten sogar für eine Erhöhung des Rentenalters der Frauen auf 65 Jahre plädiert.
[12] Amtl. Bull. NR, 1993, S. 302 f.
[13] Amtl. Bull. NR, 1993, S. 244; L’Hebdo, 4.2.93; TG, 19.3.93; Presse vom 11.3., 6.5. und 21.8.93. Gegen eine Erhöhung des Rentenalters sprachen sich ebenfalls die meisten Frauenorganisationen sowie die Eidg. Kommission für Frauenfragen aus (SGT, 27.2.93; TW, 2.3.93).
[14] Soziale Sicherheit, 1993, Nr. 5, S. 17 ff. (Kurzfassung des BSV-Berichtes) und Nr. 6, S. 1 und 2 f.; TA, 6.5.93; Presse vom 9.7. und 18.8.93; BZ, 20.7. und 31.8.93; CVP-Pressedienst, 21.7., 4.8. und 15.12.93; Bund, 3.8.93; SAZ, 12.8.93 (Berechnung der verschiedenen Varianten); SoZ, 15.8. und 22.8.93; BaZ, 17.8.93; Gewerksch. Rundschau, 1993, Nr. 4; Soziale Medizin, Dez. 1993. Die grossen Frauenorganisationen meldeten beträchtliche Bedenken gegenüber der Einheitsrente an, und der SGB drohte bereits mit dem Referendum, da die Einheitsrente wohl nur über eine Erhöhung des Rentenalters der Frauen zu finanzieren wäre (Presse vom 12.10.93).
[15] Ostschweiz, 28.12.92.
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