Année politique Suisse 1993 : Politique sociale / Groupes sociaux
Flüchtlinge
Der Bosnienkrieg und die Spannungen in der serbischen Provinz Kosovo hinterliessen deutliche Spuren in der Asylstatistik 1993. Fast die Hälfte der 24 739 neuen Gesuchsteller – was gegenüber dem Vorjahr einer Zunahme um 38% entspricht – kam aus dem ehemaligen Jugoslawien, und die durchschnittliche Anerkennungsquote stieg namentlich wegen des hohen Anteils von Flüchtlingen aus Bosnien-Herzegowina von 4,5 auf 14,7%. 27,8% der Asylbewerber kamen aus dem Kriegsgebiet in Bosnien, 21,2% aus Restjugoslawien, vor allem aus dem Kosovo. An dritter Stelle standen die Somalier mit 9,3%, gefolgt von den Albanern mit 8,1 %. Deutlich weniger zahlreich als in früheren Jahren waren die Asylbewerber aus Sri Lanka (7,0%) und der Türkei (4,4%). 46,7% der Asylgesuche von Flüchtlingen aus Bosnien-Herzegowina wurde entsprochen ; für Restjugoslawien lag diese Quote bei 6,8%. Der Anteil der anerkannten Flüchtlinge aus der Türkei stieg von 12,1 auf 26,1% ebenfalls stark an.
Das Bundesamt für Flüchtlinge (BFF) fällte 1993 rund ein Fünftel weniger Entscheide als im Vorjahr, und zwar noch knapp 29 700. Als Gründe für den Rückgang nannte der seit dem 1. Juli des Berichtsjahres amtierende BFF-Direktor Urs Scheidegger den Abbau von 50 Stellen und die vermehrte Behandlung älterer, arbeitsintensiverer Asylgesuche. Der Pendenzenberg konnte dennoch um 3900 auf 27 800 Dossiers abgebaut werden
[10].
Kurz vor Ablauf der Sammelfrist konnte die SVP vermelden, dass ihre
Volksinitiative "gegen die illegale Einwanderung" mit rund 110 000 Unterschriften zustandegekommen ist. Die SVP will damit erreichen, dass auf Asylgesuche illegal eingereister Asylbewerber nicht mehr eingetreten wird, wobei aber — anders als in einer im Vorjahr von der SD mit ähnlicher Stossrichtung eingereichten Initiative — der Grundsatz des Non-Refoulement gewahrt bleiben soll. Um die wirtschaftliche Attraktivität der Schweiz zu senken, will die SVP eine staatliche Lohnverwaltung für Asylbewerber einführen. Das Volksbegehren der SVP — übrigens das erste in ihrer Parteigeschichte — fand vor allem Unterstützung in den Kantonen Aargau, Bern und Zürich
[11].
Der Nationalrat überwies oppositionslos eine Motion des Ständerates mit dem Auftrag, einen
Status für Gewaltflüchtlinge zu schaffen. Bei den Gewaltflüchtlingen handelt es sich um Personen, welche die Voraussetzungen des Flüchtlingsbegriffs, wie ihn die UNO-Flüchtlingskonvention und das schweizerische Asylgesetz definieren, nicht erfüllen, weil sie nicht individuell verfolgt werden, die aber aus berechtigter Furcht vor Unruhen, Bürgerkriegen usw. aus ihrer Heimat fliehen. Nach Beruhigung der Lage können diese Gewaltflüchtlinge in ihr Land zurückkehren, weshalb die Motion auch verlangt, dass die Rückkehrhilfe für diese Menschen geregelt werden soll
[12].
Im April verfügte der Bundesrat
aus humanitären Gründen die vorläufige Aufnahme von rund 13 000 Personen aus Bosnien-Herzegowina. Von dieser Sonderregelung profitierten Menschen ohne ordentliche Aufenthaltsbewilligung, Asylbewerber, denen der Flüchtlingsstatus nicht zuerkannt worden war, Saisonniers, Jahres- und Kurzaufenthalter mit abgelaufenen Bewilligungen sowie Touristen und Besucher, deren Rückkehr in ihre Heimat mit Rücksicht auf den Krieg als unzumutbar beurteilt wurde. Im Oktober verlängerte der Bundesrat die vorläufige Aufnahme um weitere sechs Monate. Insgesamt waren Ende Jahr — zusätzlich zu den Personen mit Niederlassungs- oder Aufenthaltsbewilligung — über 80 000 Bürgerinnen und Bürger aus dem ehemaligen Jugoslawien unter verschiedenen Titeln in der Schweiz anwesend
[13].
Im Vorjahr hatten sich die Hilfswerke für einen
Ausschaffungsstopp für abgewiesene albanische Asylbewerber aus dem Kosovo eingesetzt. Die Asyl-Rekurskommissipn (ARK) hatte deren Argumente übernommen und die Ausschaffungen sistiert. Im Februar reiste eine Delegation des BFF und des EDA nach Restjugoslawien, um die Menschenrechtslage im Kosovo abzuklären. Bei ihrem zweitägigen Besuch stellte sie fest, dass im Kosovo ein Zustand labiler Ruhe herrsche und sich die Menschenrechtslage nicht dramatisch verschlechtert habe. Diese Beurteilung wurde in der Folge von den Kammern 7 und 6 der ARK übernommen, welche ab Ende März trotz Warnungen der Hilfswerke und des UNHCR wieder Wegweisungsentscheide fällte
[14].
Obgleich die zwangsweisen Rückschaffungen von abgewiesenen Asylbewerbern nach Kosovo seit Ende Oktober nicht mehr über Mazedonien durchgeführt werden konnten, weil dieses Land die Transitvereinbarung mit der Schweiz vorläufig aufhob, und trotz vehementem Protest aus Hilfswerk- und Kirchenkreisen, hielt der Bundesrat an seinem Entscheid fest, mit den Ausschaffungen von Kosovo-Albanern konsequent weiterzufahren. Dies veranlasste einzelne Kirchgemeinden im Kanton Bern, auf den Gedanken des Kirchenasyls zurückzugreifen und den abgewiesenen Asylbewerbern Unterschlupf in Kirchenräumen zu gewähren. Dieser Schutz vor weltlichem Zugriff ist rechtlich nirgends verbrieft und wurde vom Bundesrat und von bürgerlichen Politikern mehrmals als illegales Vorgehen angeprangert
[15].
Im Sommer reiste BFF-Direktor Scheidegger nach
Sri Lanka, um vor Ort die Möglichkeiten einer Rückschaffung der tamilischen Flüchtlinge "in Sicherheit und Würde" zu prüfen. Als erstes Land der Welt schloss die Schweiz mit der Regierung in Colombo ein Repatriierungsabkommen. Gemäss Scheidegger plant die Schweiz, jährlich rund 200 Flüchtlinge – vor allem jene, die nach dem 1. September 1992 eingereist sind – in ihr Land zurückzuschaffen, obgleich dort im Norden weiterhin Bürgerkrieg herrscht. Die ausgeschafften Tamilen sollen im mehrheitlich von Singhalesen bevölkerten Süden der Insel angesiedelt werden und auf die Hilfe der Schweizer Botschaft zählen können
[16].
Im Anschluss an eine längere asylpolitische Aussprache lehnte der Nationalrat – wie im Vorjahr bereits der Ständerat –
drei Standesinitiativen der Kantone Aargau, Thurgau und Luzern ab. Die darin vorgeschlagenen
notrechtlichen Massnahmen wurden mehrheitlich als mit der schweizerischen Rechtsauffassung nicht vereinbar erachtet. Zudem wurde darauf hingewiesen, dass sich die Lage im Asylbereich seit der Einreichung der drei Initiativen (1991) vor allem dank der 1990 vom Parlament beschlossenen dritten Asylgesetzrevision deutlich entspannt habe, so dass sich im jetzigen Zeitpunkt eine Verschärfung des Asylrechts nicht aufdränge. Einzelne Anliegen der Standesinitiativen – so etwa eine Beschleunigung der Verfahren – seien in der Zwischenzeit erfüllt worden
[17].
Zur Diskussion um delinquierende Asylbewerber, entsprechende parlamentarische Vorstösse und die Ende Jahr vom Bundesrat vorgelegten Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht siehe oben, Teil I, 1b (Strafrecht).
Nach dem Ständerat überwies auch der Nationalrat eine Motion Huber (cvp, AG), welche den Bundesrat auffordert, alle Anstrengungen zu unternehmen, damit die Schweiz dem
Erstasylabkommen der EG-Staaten beitreten kann. Da der Bundesrat seit Jahren auf einen Beitritt zu diesem Abkommen hinarbeitet, bat der Vorsteher des EJPD den Rat um Überweisung dieser Motion. Den Bedenken einer linken Kommissionsminderheit wurde teilweise Rechnung getragen durch die Verabschiedung eines Kommissionspostulates, das den Bundesrat einlädt, insbesondere im Bereich des Datenschutzes alle Gesetzesänderungen vorzubereiten, die bei einer Ratifikation des Erstasylabkommens vorausgesetzt werden müssen
[18].
Nach der Neuregelung des Asylrechts in
Deutschland konnte die Schweiz mit der BRD ein
gegenseitiges Rückübernahmeabkommen unterzeichnen. Wichtigster Bestandteil ist die Verpflichtung beider Staaten, diejenigen Ausländerinnen und Ausländer zurückzunehmen, die unbefugt ins andere Land eingereist sind. Das Abkommen erlaubt auch die Rückschiebung von illegal eingereisten Asylsuchenden, und zwar unabhängig davon, ob sie im Nachbarstaat bereits ein Asylbegehren eingereicht haben und ob dieses Verfahren dort bereits abgeschlossen ist
[19].
[10] Presse vom 11.2.94. Zum Personalabbau im BFF siehe auch die Stellungnahme des BR in Amtl. Bull. NR, 1993, S. 1988 ff.
[11] BBl, 1994, II, S. 1354 f.; NQ, 12.10.93. Siehe SPJ 1992, S. 246 f.
[12] Amtl. Bull. NR, 1993, S. 1049 f. Zu ähnlichen Forderungen des Schweizerischen Roten Kreuzes siehe Presse vom 10.11.93.
[13] Presse vom 22.4. und 21.10.93 sowie 11.2.94.
[14] LNN, 24.4.93; BZ, 3.7.93.
[15] Zur Einschätzung der Menschenrechtslage im Kosovo und zu den Rückschaffungen vgl. die Haltung des BR in Amtl. Bull. NR, 1993, S. 1771, 1774, 1776 ff. und 2342; NQ, 5.10.93; BZ, 15.10. und 30.1.93; Ww, 21.10.93; LNN, 29.10.93. Zu früheren ähnlichen Handlungen der Landeskirchen siehe SPJ 1991, S. 244 f.
[16] LNN, 31.7.93; WoZ, 13.8., 1.10. und 15.10.93.
[17] Amtl. Bull. NR, 1993, S. 1002 ff. und 1033 ff. Siehe dazu SPJ 1992, 246.
[18] Amtl. Bull. NR, 1993, S. 1045 f.
[19] BZ, 28.5. und 21.12.93. Derartige, Abkommen bestehen bereits mit Frankreich und Österreich, nicht aber mit Italien. Zur Verschärfung der Asylgesetzgebung in der BRD und deren Auswirkungen auf die Schweiz siehe die Stellungnahme des BR in Amtl. Bull. NR, 1993, S. 1990 f.
Copyright 2014 by Année politique suisse
Ce texte a été scanné à partir de la version papier et peut par conséquent contenir des erreurs.