Année politique Suisse 1994 : Politique sociale / Population et travail
 
Arbeitsmarkt
Während die Schweiz mit der EU über den freien Personenverkehr verhandelt, ist die Internationalisierung in den Chefetagen der in der Schweiz domizilierten Topunternehmen längst schon Realität. Wie eine Umfrage bei den 25 grössten Firmen zeigte, sind heute knapp 45% aller Mitglieder der jeweiligen obersten Geschäftsleitung Bürger ausländischer Nationen. Unter diesen sind die Deutschen mit rund einem Drittel vor den Amerikanern und den Franzosen am stärksten vertreten [9].
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Arbeitslosigkeit
Der Konjunkturaufschwung, der sich ab Mitte des Vorjahres abgezeichnet hatte, und der sich im Berichtsjahr weiter verstärkte, wirkte sich erst zögerlich auf den Arbeitsmarkt aus. Die Zahl der Beschäftigten sank um weitere 1,7%, wobei der Abbau im 2. Sektor (-2,4%) erneut markanter ausfiel als im Dienstleistungssektor (-1,4%); in der Baubranche nahm die Beschäftigtenzahl nur noch um 0,4% ab. Die Zahl der erwerbstätigen Frauen ging etwas stärker zurück als diejenige der Männer (-2,4% resp. -1,4%). Im Gegensatz zum Vorjahr waren die Ausländer (-0,8%) vom Beschäftigungsabbau weniger betroffen als die Schweizer (-2,1%). Die Zahl der beim BIGA gemeldeten Arbeitslosen hatte im November des Vorjahres mit 181 400 Personen ihren Höchststand erreicht. Sie sank im Verlauf des Berichtsjahres stetig bis auf 161 000 Erwerbslose im Dezember. Die Arbeitslosenquote ging damit von 5,0% im Januar auf 4,4% zu Jahresende zurück; im Jahresmittel lag sie bei 4,7%. Wie bei der Beschäftigungsentwicklung waren auch bei den Arbeitslosenzahlen grosse regionale Unterschiede auszumachen. Überdurchschnittlich hoch blieb die Quote weiterhin in der französischsprachigen Schweiz und im Tessin, während (wie schon im Vorjahr) die Kantone Appenzell-Innerrhoden (1,2%), Uri (1,6%) und Graubünden (1,9%) die niedrigsten Werte auswiesen [10].
Seit Mai publiziert das BIGA Angaben zur Langzeitarbeitslosigkeit. Gemäss dieser Statistik, die sich noch in einer Versuchsphase befindet, waren im Jahresmittel 49 239 Personen seit mindestens einem Jahr arbeitslos. Dies entspricht 30,2% aller Erwerbslosen. In der Westschweiz und im Tessin, bei den Frauen und bei den Ausländern war die Langzeitarbeitslosigkeit leicht überdurchschnittlich verbreitet. Besonders bedroht sind die über 50-jährigen, von denen im Mittel annähernd die Hälfte (48,8%) seit über einem Jahr erwerbslos waren [11].
Im Jahresmittel waren 1772 Betriebe und 22 600 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer von Kurzarbeit betroffen, was gegenüber dem Vorjahr (2838 Betriebe und 42 046 Erwerbstätige) einen deutlichen Rückgang bedeutet. Ihren Höchststand erreichte die Kurzarbeit im Januar mit 2 096 787 Ausfallstunden, den tiefsten Wert im August mit 473 416 Stunden. Im Jahresmittel fielen monatlich 1 079 437 Stunden aus, was nur mehr gut 50% des Vorjahreswertes (1 985 484 Stunden) entspricht [12]. Da offenbar immer wieder Arbeitgeber mit falschen Angaben zur Kurzarbeit die Arbeitslosenversicherung missbrauchen, sah der Nationalrat bei der zweiten Teilrevision des AVIG vor, die Anspruchsberechtigung auf Kurzarbeit zu verkürzen und strengere Kontrollen einzuführen (siehe unten, Teil I, 7c, Arbeitslosenversicherung).
Angesichts der hohen Zahl von Arbeitslosen verstärkten das BIGA und die kantonalen Arbeitsämter im Berichtsjahr ihre Anstrengungen zum Ausbau von aktiven arbeitsmarktlichen Massnahmen. Die dafür aufgewendeten Gelder stiegen gegenüber dem Vorjahr um knapp das Zweieinhalbfache von 137 auf 322 Mio Fr. Rund 61 000 Arbeitslose (1993: 49 270) kamen in den Genuss von Um- und Weiterbildungskursen, erhielten Einarbeitungszuschüsse oder waren in ein Beschäftigungsprogramm integriert. Seit Herbst 1993 absolvierten zudem etwa 3500 junge Lehrabgängerinnen und Lehrabgänger auf Kosten der Arbeitslosenversicherung ein sechsmonatiges Betriebspraktikum [13].
Ein innovativer Weg wurde - mit Unterstützung des BIGA - im Kanton Solothurn beschritten, nachdem es bei den Biber-Werken in Biberist und Utzenstorf zu Massenentlassungen gekommen war. In enger Zusammenarbeit zwischen Gewerkschaften, Unternehmen und kantonaler Arbeitsmarktbehörde wurde nach dem Vorbild der österreichischen "Arbeitsstiftungen", die seit zehn Jahren mit einem ähnlichen Modell erfolgreich gegen die Arbeitslosigkeit vorgehen, eine Transfer-Organisation (BibUtz) ins Leben gerufen. Diese hilft den Betroffenen durch ein breitgefächertes Angebot von Beratungs-, Qualifizierungs- und Vermittlungsmassnahmen, den Kontakt zum Arbeitsmarkt nicht zu verlieren, da damit am ehesten Gewähr besteht, sie rasch und dauerhaft wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Gleichzeitig wurde auch für die Entlassenen der Monteforno-Werke in Bodio (TI) ein ähnliches Pilotprojekt initiiert [14].
Die von der SP und den Gewerkschaften in mehreren Kantonen eingereichten Volksinitiativen für die Schaffung von staatlichen Beschäftigungsprogrammen, welche mit Steuerzuschlägen auf mittleren und hohen Einkommen und Vermögen finanziert werden sollten, fanden an der Urne keine Zustimmung. Sowohl in St. Gallen als auch in Schaffhausen wurden sie mit deutlichen Mehrheiten (je 81%) verworfen  [15].
Der Nationalrat lehnte eine parlamentarische Initiative der SP-Fraktion ab, welche für die Jahre 1994 bis 1996 einen Rahmenkredit von 200 Mio Fr. zur Mitfinanzierung von kantonalen, kommunalen und privatrechtlich organisierten Projekten verlangte, die sich spezifisch an arbeitslose Frauen richten. Das Plenum schloss sich damit der Mehrheit seiner Kommission an, die durchaus anerkannte, dass Frauen im Erwerbsleben immer noch benachteiligt und von der Arbeitslosigkeit überproportional betroffen sind, die vorgesehene Finanzierung aber für zu ambitiös und deshalb wenig effizient erachtete. Mit den 200 Mio Fr. sollten nämlich nur 10% bis 25% der Projektkosten gedeckt werden, was seitens der Kantone, der Gemeinden oder anderer Trägerschaften insgesamt Investitionen in Milliardenhöhe bedingen würde, um diese Bundesbeiträge auszulösen. Sie verwies auch darauf, dass bereits heute im Rahmen des Arbeitslosenversicherungsgesetzes (AVIG) die Möglichkeit besteht, frauenspezifische Projekte zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit mit einem wesentlich höheren Beitragssatz der Arbeitslosenversicherung zu realisieren. Die vorgesehenen Reformen im teilrevidierten AVIG würden hier zudem noch zu weiteren Ausbaumöglichkeiten führen [16].
Für die zweite Teilrevision des AVIG siehe unten, Teil I, 7c (Arbeitslosenversicherung).
 
[9] SHZ, 13.1.94.9
[10] Die Volkswirtschaft, 68/1995, Nr. 5, S. 8* ff. Vgl. auch SPJ 1993, S. 191. Gemäss der von der Schweizerischen Arbeitskräfteerhebung (SAKE) verwendeten Defintion lag die Erwerbslosenquote um einiges tiefer als nach den Zahlen des BIGA, nämlich bei 3,8% im 2. Quartal. Zu der in der SAKE verwendeten und von der OECD und der EU empfohlenen Definition der Arbeitslosigkeit siehe auch SPJ 1992, S. 202. 10
[11] Die Volkswirtschaft, 68/1995, Nr. 6, S. 13*. Die Zahl der Ausgsteuerten, d.h. jener Arbeitslosen, die ihren Anspruch auf ALV-Taggelder aufgebraucht haben, schätzte BIGA-Direktor Nordmann auf 65 000 per Ende 1994 (X-Time (Arbeitslosenzeitung), 1995, Nr. 2). Zu Pilotprojekten in den Kantonen Genf und Tessin, wo ausgesteuerte Arbeitslose ein garantiertes Mindesteinkommen erhalten, wenn sie Arbeiten für die Allgemeinheit übernehmen, siehe unten, Teil I, 7c (Grundsatzfragen).11
[12] Die Volkswirtschaft, 68/1995, Nr. 1 und 6, S. 13*. 12
[13] S. Schnyder, "Weiterer Ausbau des Angebots an arbeitsmarktlichen Massnahmen", in Die Volkswirtschaft, 68/1995, Nr. 1, S. 48 ff.13
[14] R. Wunderli, "Innovative Arbeitsmarktpolitik am Beispiel der Transfer-Organisation BibUtz", in Die Volkswirtschaft, 68/1995, Nr. 5, S. 50 ff. und W. Steinmann / R. Kurath, "Transfer-Organisation BibUtz", in Die Volkswirtschaft, 68/1995, Nr. 6, S. 51 ff.14
[15] In den Kantonen BE, FR und NE wurden solche Initiativen neu eingereicht. Siehe dazu unten, Teil II, 2b. 15
[16] Amtl. Bull. NR, 1994, S. 1730 ff.16