Année politique Suisse 1994 : Politique sociale / Population et travail
Gesamtarbeitsverträge (GAV)
Mit einer nationalen Grosskundgebung wiesen die beiden Gewerkschaften Bau und Industrie (GBI) und Christlicher Holz- und Bauarbeiterverband (CHB) Ende Mai in Bern auf die
Bedeutung der GAV für die Sozialpartnerschaft hin. Wenn bei den GAV auf Betreiben der Arbeitgeber weiter dereguliert werde, so kippe das System der Partnerschaft in Arbeitskonflikte und "innere Kündigung", warnte GBI-Präsident Vasco Pedrina
[29].
Zu den härtesten Arbeitsvertragsverhandlungen des Berichtsjahres kam es im graphischen Gewerbe, wo der 1988 zwischen dem Schweizerischen Verband Graphischer Unternehmer (SVGU) einerseits und der Gewerkschaft Druck und Papier (GDP), der Schweizerischen Graphischen Gewerkschaft (SGG) und dem Schweizerischen Lithographenbund (SLB) abgeschlossene GAV Ende August auslief. Nachdem eine erste Verhandlungsrunde gescheitert war, sprachen sich die Gewerkschafter in einer Urabstimmung zu 95% (bei einer Stimmbeteiligung von rund 46%) für Kampfmassnahmen aus. Nach ersten Protestaktionen gegen die vom SVGU geplante Senkung der Schichtzulagen und der Mindestlöhne, welche durch eine Flexibilisierung der Arbeitszeiten noch verschärft werden sollten, kam es am 3. November zu einem landesweiten 24-stündigen Warnstreik, der die graphischen Betriebe und insbesondere die Zeitungsverlage stark beeinträchtigte. Über 10 000 Druckerinnen und Drucker legten die Arbeit in dieser grössten Streikbewegung seit 1980 nieder.
Die Arbeitgeber, welche den Gewerkschaften diese Mobilisierungskraft offenbar nicht zugetraut hatten, boten diesen umgehend ein
erweitertes Verhandlungsangebot an, welches Nachgeben bei den Schichtzulagen und den Mindestlöhnen, nicht aber bei den Arbeitszeiten signalisierte. Ende November erarbeitete eine Arbeitsgruppe der Sozialpartner einen Vertragstext, welcher in den Hauptpunkten den "nachgebesserten" Vorschlägen der Arbeitgeber entsprach. Bis zum Ende des Berichtsjahres konnte jedoch keine definitive Einigung erzielt werden
[30].
Auch bei den Verhandlungen über die Erneuerung des Ende 1994 auslaufenden Landesmantelvertrages für das
Bauhauptgewerbe, welcher die Arbeitsbedingungen von rund 120 000 Beschäftigten regelt und darüber hinaus Signalwirkung für verwandte Wirtschaftszweige hat, konnten sich Gewerkschaften und Arbeitgeber lange auf keinen Kompromiss einigen. Die Gewerkschaften verlangten eine Reallohnerhöhung von 2% und zwei zusätzliche Ferientage, welche der Schweizerische Baumeisterverband (SBV) nicht gewähren wollte. Auch der von den Gewerkschaften im Gegenzug angebotene Verzicht auf einen automatischen Teuerungsausgleich bis 3% konnte die Arbeitgeber vorerst nicht umstimmen. Ende November kam es dann aber zu einer Vereinbarung, welche in den wesentlichen Punkten den Vorstellungen der Gewerkschaften entsprach
[31].
Nach monatelangem Ringen stimmten die Arbeitgeber und Gewerkschaften einem neuen GAV für die
Schreinerbranche zu. Der neue Vertrag bringt flexiblere Arbeitszeiten und leistungsabhängige Lohnanpassungen für die rund 25 000 Arbeitnehmer dieser Berufsgattung. Zudem enthält er auch Massnahmen zur Erhöhung der Beschäftigungschancen von Jungschreinern
[32]. Ebenfalls nach intensiven Verhandlungen einigten sich die
Migros-Sozialpartner auf einen neuen, auf vier Jahre befristeten GAV für die rund 45 000 Angestellten. Auch hier setzte sich der Verzicht auf den automatischen Teuerungsausgleich durch
[33].
15 Monate nach Ratifizierung des "Krisenartikels" in der Maschinen- und Metallindustrie forderte die Gewerkschaft SMUV dessen Abschaffung auf Ende 1995. Der ökonomische Wiederaufschwung sei da, weshalb die Anwendung dieses Artikels zur Überwindung kurzfristiger konjunktureller Probleme einzelner Firmen nicht mehr angebracht sei. Allerdings mussten auch die Gewerkschaften eingestehen, dass sich der
"Krisenartikel" generell bewährt habe und verantwortungsvoll damit umgegangen worden sei
[34].
Da aufgrund eines neuen Berechnungsmodus die BIGA-Statistiken zu den Streikbewegungen bis zur Drucklegung dieser Publikation nicht vorlagen, werden die wichtigsten Arbeitskonflikte, die insgesamt im Berichtsjahr zu erheblich mehr Streiktagen als in den Vorjahren führten, in den entsprechenden Unterkapiteln behandelt: siehe oben (Gesamtarbeitsverträge) und unten (Mitwirkung der Arbeitnehmer).
[29] Presse vom 26.5. und 30.5.94. Die Tendenz der Arbeitgeber, in den GAV nur noch die Rahmenbedingungen zu regeln, die Lohn- und Arbeitszeitverhandlungen hingegen den Betrieben zu überlassen, wurde auch durch eine Studie des BIGA bestätigt: D. Lopreno, "Gesamtarbeitsverträge in der Schweiz mit 1000 und mehr Unterstellten im Mai 1993", in
Die Volkswirtschaft, 67/1994, Nr. 7, S. 48 ff. Siehe auch V. Conti, "Allgemeinverbindlich erklärte Gesamtarbeitsverträge (GAV), Stand 30. Juni 1994", in
Die Volkswirtschaft, 67/1994, Nr. 8, S. 67 f.29
[30] Presse vom 21.5., 31.8., 2.9., 16.9., 17.9., 29.9., 26.10., 31.10., 1.-5.11., 16.11.94, 18.11., 29.11., 3.12., 8.12., 12.12. und 16.12.94. Siehe dazu auch unten, Teil I, 8c (Presse).30
[31] Presse vom 23.9., 24.11., 5.12., 8.12., 9.12. und 17.12.94. Ende Mai demonstrierten rund 15 000 Bauarbeiter in Bern für einen neuen GAV mit mehr Lohn und kürzeren Arbeitszeiten (
Bund, 30.5.94).31
[32]
NZZ, 7.11. und 14.11.94.32
[34] Presse vom 24.2., 10.3. und 1.7.94;
NZZ, 17.9.94. In den Von-Roll-Werken in Gerlafingen (SO), in denen der Krisenartikel im Vorjahr erstmals Anwendung gefunden hatte, wurde er im April sistiert (Presse vom 20.4.95). Vgl.
SPJ 1993, S. 196. 34
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