Année politique Suisse 1994 : Politique sociale / Assurances sociales
 
Grundsatzfragen
Zu Beginn des Jahres geriet die Sozialpolitik in eine grundsätzliche Kontroverse. Als erster prellte Arbeitgeberdirektor Hasler vor. Er verlangte ein Moratorium beim weiteren Ausbau der verschiedenen Zweige der Sozialversicherung, da die Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz keine zusätzlichen Lohnprozente und Lohnnebenkosten mehr erlaube. An der Delegiertenversammlung der FDP doppelte Parteipräsident Steinegger nach und forderte eine bedarfsgerechte Sozialpolitik, welche die Sozialwerke sichere, ohne den Staat zu überfordern. Das Engagement der öffentlichen Hand solle auf jene konzentriert werden, die wirklich Hilfe nötig hätten. In ähnlichem Sinn äusserte sich auch SVP-Präsident Uhlmann. Er vertrat ebenfalls die Auffassung, der Sozialstaat sei nun genügend ausgebaut, und es werde in Zukunft vordringlich darum gehen, in einer schwierigen Gratwanderung zwischen Finanz- und Sozialpolitik einen allzu schmerzhaften Abbau zu verhindern [1].
Die SP wertete diese Äusserungen als Attacke auf den Sozialstaat und wies sie als "Angstmacherei" zurück. Der Umstieg auf eine bedarfsgerechte Sozialhilfe bedeute nichts anderes als der Rückschritt von einem auf Solidarität basierenden System zur Armengenössigkeit. Parteipräsident Bodenmann rief dazu auf, 1994 nicht zum Jahr der "inneren", sondern der "sozialen" Sicherheit zu machen. Eine gute Sozialpolitik und eine radikal neue Drogenpolitik seien die beste Prävention gegen steigende Kriminalität. Die politische Rechte benutze das Thema der inneren Sicherheit (s. oben, Teil I, 1b), um von den realen sozialen Problemen abzulenken und den Sozialabbau voranzutreiben. Auch der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) beurteilte die meisten der von den Bürgerlichen geäusserten finanziellen Prognosen zur Zukunft der Sozialwerke als zu pessimistisch und plädierte für einen weiteren Ausbau des Systems der sozialen Sicherheit. Zur Finanzierung erachtete er weitere lohnprozentuale Abzüge als vertretbar, und er empfahl zudem einkommensabhängige Zuschläge zur direkten Bundessteuer sowie eine Erhöhung des Mehrwertsteuersatzes [2].
Da die Äusserungen der Arbeitgeber und der Vertreter von FDP und SVP - insbesondere auch die immer wieder vorgebrachte These, wonach die AHV kurz vor dem finanziellen Kollaps stehe - vor allem in der älteren Bevölkerung bedeutende Ängste auslösten, griff Bundesrätin Dreifuss schliesslich zu einem für schweizerische politische Verhältnisse ungewohnten Mittel. Sie liess der Presse einen offenen Brief an die Bevölkerung zukommen, in welchem sie das materielle Fundament der AHV bis über die Jahrtausendwende hinaus als solide und für die Sicherung der Renten ausreichend taxierte, weshalb sich ihrer Ansicht nach auch die Anhebung des Rentenalters der Frauen im Rahmen der 10. AHV-Revision nicht aufdränge (s. unten). Da der Gesamtbundesrat im Vorjahr beschlossen hatte, sich entgegen seiner ursprünglichen Haltung dieser Erhöhung des Rentenalters nicht zu widersetzen, sah sich Dreifuss dem Vorwurf der bürgerlichen Parteien ausgesetzt, mit ihrer Initiative das Kollegialitätsprinzip verletzt zu haben.
Im Frühjahr beriet der Bundesrat in einer Klausursitzung erstmals den von ihm beim EDI in Auftrag gegebenen Drei-Säulen-Bericht, dessen sozialpolitische Bedeutung schwergewichtig in der Darstellung und in der Überprüfung der Tauglichkeit der Drei-Säulen-Konzeption für die Alters-, Hinterbliebenen- und Invalidenvorsorge liegt. Der Bericht sollte als Grundlage für die Diskussion der Probleme dienen, die sich insbesondere im Zusammenhang mit der demographischen Entwicklung stellen. Der Bundesrat teilte die Schlussfolgerung des Berichts, wonach an der Drei-Säulen-Konzeption bei der AHI-Vorsorge grundsätzlich festgehalten werden soll, erachtete den Bericht in Detailfragen aber als ungenügend und beauftragte das EDI, ihn hinsichtlich verschiedener Leistungs- und Wirtschaftsszenarien zu ergänzen. Um Aspekte zu beleuchten, die über den Rahmen der eigentlichen AHI-Vorsorge hinausgehen, ermächtigte der Bundesrat das EDI Ende Jahr zudem, eine interdepartementale Arbeitsgruppe "Finanzierungsperspektiven in der Sozialversicherung" einzusetzen, die mögliche Lösungswege für die mittel- und langfristige Finanzierung der Sozialwerke aufzeigen soll [4].
Die Kommission des Nationalrates für soziale Sicherheit und Gesundheit (SGK) nahm im Spätsommer die Beratung des von einer Ständeratskommission erarbeiteten Entwurfes zu einem Bundesgesetz über einen allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) wieder auf, welche sie Ende 1992 ausgesetzt hatte. Nach Kenntnisnahme der zustimmenden Stellungnahme des Bundesrates beschloss sie, auf die Vorlage einzutreten. Sie bestimmte eine Subkommission, die sich vertieft mit der gesetzestechnisch sehr komplexen Materie befassen und Anträge zuhanden der Gesamtkommission formulieren soll [5].
In den letzten Jahren ist von rot-grüner Seite immer wieder die Forderung nach einem garantierten Mindesteinkommen erhoben worden. Im Plenum der eidgenössischen Räte wurden derartige Vorschläge jeweils deutlich abgelehnt. Auch im Berichtsjahr verwarf der Nationalrat mit grossem Mehr eine parlamentarische Initiative Zisyadis (pda, VD) für ein Mindesteingliederungseinkommen. Eine analoge Motion einer Minderheit der nationalrätlichen SGK, welche das Anliegen im Rahmen der Arbeitslosenversicherung realisieren wollte, konnte sich ebenfalls nicht durchsetzen. Der Bundesrat war zwar bereit, die Motion in Form eines Postulates entgegenzunehmen, doch wurde auch dieses von Nationalrat Allenspach (fdp, ZH) bekämpft. Diskussionslos nahm die grosse Kammer hingegen ein entsprechendes Postulat ihrer Kommission an [6].
Erste Schritte in diese Richtung unternahmen hingegen die Kantone Genf und Tessin. In Genf erhalten ausgesteuerte Arbeitslose anstatt Fürsorgeleistungen ein garantiertes Mindestsozialhilfeeinkommen (RMCAS), wenn sie als Gegenleistung bereit sind, Arbeiten für die Allgemeinheit zu übernehmen oder sich weiterzubilden. Der Tessin machte noch einen zusätzlichen Schritt und führte ein generelles Recht auf soziale und berufliche Wiedereingliederung ein. Jede Person, welche seit mehr als drei Monaten von der öffentlichen Fürsorge unterstützt wird, kann entscheiden, ob sie weiterhin Sozialhilfe beziehen möchte, welche bei einer Verbesserung der finanziellen Lage zurückbezahlt werden muss, oder ob sie mit dem Kanton einen Wiedereingliederungsvertrag unterzeichnen will, der ihr ein nicht rückerstattungspflichtiges Mindesteinkommen bringt, allerdings auch hier nur unter der Bedingung, dass Arbeiten für die Allgemeinheit geleistet oder eine Weiterbildung bzw. eine Umschulung angegangen werden [7].
 
[1] Presse vom 6.1. und 7.1.94; SGT, 8.1.94; SoZ, 9.1.94; Cash, 14.1.94; TA, 17.1. und 29.6.94.1
[2] SP: Bund, 18.1. und 24.1.94; JdG, 16.2.94; NQ, 18.2.94. SGB: Den Sozialstaat stärken. Manifest des SGB zur sozialen Sicherheit, Bern 1994; Presse vom 31.8.94.2
[4] Gesch.ber., 1994, I, S. 40 und II, S. 96 f. Siehe dazu auch zwei Postulate Deiss (cvp, FR) und Raggenbass (cvp, TG) sowie eine Interpellation der SP-Fraktion in Amtl. Bull. NR, 1994, S. 1193 f., 1903 f. und 1915 ff.; Presse vom 31.3.94; SoZ, 1.5.94; NZZ, 5.8.94.4
[5] BBl 1994, V, S. 921 ff.; SGT, 22.9.94. Vgl. M. Kocher, "Zum Wesen der Koordination in der schweizerischen Sozialversicherung", in recht, 1994, S. 67 ff. und SPJ 1992 S. 225.5
[6] Amtl. Bull. NR, 1994, S. 588 f., 599 und 1862 ff. Vgl. SPJ 1993, S. 215. Siehe auch F. Wolffers, "Der Anspruch auf Existenzsicherung", in Plädoyer, 1994, Nr. 4, S. 30 ff. Vgl. SPJ 1993, S. 215. Beide Kammern lehnten eine Standesinitiative des Kantons BS zur Schaffung eines Grundrechts auf Existenzbedarf als die Einheit der Materie nicht respektierend und teilweise erfüllt ab (Amtl. Bull. NR, 1994, S. 1155 f.; Amtl. Bull. StR, 1994, S. 1307 f.).6
[7] Genf: Soziale Sicherheit, 1995, Nr. 1, S. 23 ff.; TdG, 5.3.94; NQ, 28.6. und 14.10.94; Lib., 27.10.94. Tessin: P. Jardini, "Soziale und berufliche Eingliederung: Wegweisende Neuerungen im Gesetz über die Sozialhilfe des Kantons Tessin", in Soziale Sicherheit, 1994, Nr. 3, S. 114 ff.7