Année politique Suisse 1994 : Politique sociale / Assurances sociales
 
Alters- und Hinterlassenenversicherung
Wie schon der Nationalrat, beschloss auch Der Ständerat, die freiwillige AHV für Auslandschweizer und -schweizerinnen vorläufig nicht aufzuheben, selbst wenn damit auf längere Frist Einsparungen von jährlich rund 40 Mio Fr. vergeben werden. Die kleine Kammer übernahm die Argumentation des Nationalrates, wonach mit einer Auflösung dieser Versicherungsmöglichkeit für einzelne Betroffene grosse Probleme entstehen könnten, weshalb vorderhand aus Gründen der Solidarität auf diese letztlich geringfügige Einsparung verzichtet werden sollte. Damit die Sanierungsmassnahmen dennoch verabschiedet werden konnten, sah der Ständerat aber von einer Rückweisung an den Bundesrat ab und strich die Teilvorlage ganz. Der Nationalrat schloss sich diesem Prozedere diskussionslos an [8].
Die 1990 von der SP und dem SGB eingereichte Volksinitiative "zum Ausbau von AHV und IV" wurde vom Parlament, weil sie als zu weitreichend erachtet wurde, klar und ohne lange Diskussionen abgelehnt. Da diese Initiative primär die Frage der Finanzierung von AHV und IV angeht, zielt sie eigentlich auf die 11. AHV-Revision ab, welche sich vorrangig mit diesem Problemkreis befassen wird. Die Initiative verlangt eine Gewichtskorrektur zwischen erster und zweiter Säule, eine existenzsichernde Rente, eine Vorruhestandsregelung ab 62 Jahren bei ungekürzter Rente, volle Freizügigkeit beim Pensionskassenwechsel sowie eine Mindestbeteiligung des Bundes an der AHV von 25 Prozent.
Auch der Ständerat machte sich bereits Gedanken zur 11. AHV-Revision. Diskussionslos und mit Zustimmung des Bundesrates überwies er eine Motion seiner vorberatenden Kommission, welche den Bundesrat beauftragt, ohne Verzug die Vorarbeiten für diese nächste Revision an die Hand zu nehmen, dabei die Altersstruktur der Bevölkerung zu berücksichtigen und das Rentenalter der Frauen jenem der Männer anzugleichen [10].
Im Nachgang an den Beschluss des Parlaments, das Rentenalter der Frauen bereits bei der 10. AHV-Revision in zwei Schritten auf 64 Jahre zu erhöhen (s. unten), lancierten der Schweizerische Kaufmännische Verband (SKV) und die Grüne Partei der Schweiz drei Volksinitiativen, die sich, inspiriert von der "Ausbau-Initiative" von SP und SGB, ebenfalls auf die 11. AHV-Revision beziehen. Sowohl SKV (Initiative "für eine Flexibilisierung der AHV - gegen die Erhöhung des Rentenalters der Frauen") wie GP (Initiative "für ein flexibles Rentenalter ab 62 für Frau und Mann") fordern eine Vorruhestandsregelung mit voller Pension für Männer und Frauen ab 62 Jahren. In einer Parallelinitiative machen die Grünen Angaben über die Finanzierung der Mehrkosten; diese Mittel sollen mit einer Steuer auf nicht erneuerbarer Energie beschafft werden (Initiative "für eine gesicherte AHV - Energie statt Arbeit besteuern") [11].
Auf einstimmigen Antrag der vorberatenden Kommission lehnte der Nationalrat eine parlamentarische Initiative Tschopp (fdp, GE) für die Errichtung einer "AHV plus" ab, die AHV, berufliche Vorsorge sowie Kranken- und Unfallversicherung durch eine Einrichtung ergänzen wollte, welche die Gesundheits- und Betreuungskosten für Betagte übernimmt. Die Kommission befand, der Vorschlag sei zwar prüfenswert, werfe aber noch allzuviele offene Fragen auf, unter anderem die ganz zentrale der Solidarität zwischen Jungen und Alten, weshalb sie anregte, die angesprochene Problematik in einem Bericht vertiefter auszuleuchten. Das Plenum überwies ein entsprechendes Postulat der Kommission diskussionslos [12].
Der Nationalrat verabschiedete hingegen mit Zustimmung des Bundesrates eine Motion Tschopp (fdp, GE), welche die Landesregierung beauftragt, eine Reihe statistischer Indikatoren erarbeiten zu lassen, auf deren Grundlage die Entwicklung der wichtigsten demographischen und wirtschaftlichen Parameter verfolgt werden kann, um die Kohärenz der Gesetzgebungsprozesse im Bereich der AHV-Revisionen zu verbessern und bezüglich der sozialen Sicherheit mehr Transparenz zu schaffen [13].
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10. AHV-Revision
Der Ständerat erteilte nach ausgedehnten Vorarbeiten dem aus CVP-Kreisen lancierten Modell einer Einheitsrente eine deutliche Absage und kehrte zum Splitting-Modell zurück, verzichtete aber auf die im Vorschlag des Nationalrates enthaltene steilere Rentenformel zugunsten der 1992 eingeführten geknickten Formel. Um Rentenverluste bei den verwitweten IV- und Altersrentnerinnen und -rentnern zu vermeiden, soll bei diesem Personenkreis ein 20prozentiger Zuschlag zur Rente ausgerichtet werden, allerdings höchstens bis zum Betrag der Maximalrente. Im Unterschied zum Nationalrat beschloss die kleine Kammer zudem, vier Jahre nach Inkrafttreten der Revision auch die altrechtlichen Renten in das neue System zu überführen. Damit soll die jahrelange Parallelführung zweier Rentensysteme und die Ungleichbehandlung von Alt- und Neurentnerinnen und -rentnern beseitigt werden.
Bereits zu Beginn der Debatte wurde deutlich, dass auch im Ständerat der hauptsächlichste Diskussionspunkt die Heraufsetzung des Rentenalters der Frauen sein würde. Zwei Rückweisungsanträge Onken (sp, TG) und Petitpierre (fdp, GE), welche den Bundesrat beauftragen wollten, eine Ruhestandsrente einzuführen bzw. das Rentenalter von der Beitragsdauer abhängig zu machen, wurden ebenso verworfen wie der Antrag einer Kommissionsminderheit, das heutige Rentenalter beizubehalten. Hingegen wurde ein Antrag Beerli (fdp, BE) / Cottier (cvp, FR) angenommen, wonach während einer Übergangsfrist der Kürzungssatz für die Frauen beim Vorbezug von 6,8% auf 3,4% halbiert werden soll. Ein Antrag Onken, die Vorlage in einen Rentenalter- und einen Splitting-Teil aufzuschlüsseln, wurde mit 32:5 Stimmen deutlich abgelehnt [14].
Bei den Verfeinerungen der Leistungsberechnungen schloss sich der Nationalrat mit geringfügigen Differenzen der kleinen Kammer an. Noch einmal viel zu reden gab die Erhöhung des Rentenalters der Frauen. Dem Plenum lag ein Kompromissvorschlag seiner Kommission vor, wonach Frauen, die unmittelbar vor Erreichen des Rentenalters während mindestens fünf Jahren ununterbrochen erwerbstätig waren und die Erwerbstätigkeit definitiv aufgeben, die Rente um ein Jahr ungekürzt vorbeziehen können. Dieser Antrag vermochte sich ebensowenig durchzusetzen wie ein Minderheitsantrag, der am ursprünglichen Beschluss des Nationalrates festhalten wollte, worauf sich die grosse Kammer der Lösung des Ständerates anschloss. Ein Antrag aus den Reihen der SP, die Vorlage sei derart aufzuteilen, dass über die Grundsatzfrage des Rentenalters getrennt von den übrigen Revisionspunkten entschieden werden könne, wurde - gleich wie im Ständerat - klar verworfen [15].
Wegen der progressiven Anhebung des Rentenalters der Frauen ergriffen der Christlich-nationale Gewerkschaftsbund (CNG) und der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) gegen die 10. AHV-Revision das Referendum, wobei Ende Jahr bereits feststand, dass dieses mit weit über 100 000 Unterschriften zustande kommen wird. Die mit dem SGB eng verbundene SP zeigte sich in dieser Angelegenheit gespalten. Die Geschäftsleitung unter Präsident Bodenmann stellte sich hinter das Referendum, der Parteivorstand hingegen wollte die positiven Aspekte der Revision - Rentensplitting, Erziehungs- und Betreuungsgutschriften - nicht gefährden und sprach sich dagegen aus. Die Partei beschloss schliesslich, der SP-Basis diesen schwierigen Entscheid anfangs 1995 in einer Urabstimmung zu unterbreiten, der ersten seit 1921, als sich die Genossinnen und Genossen für oder gegen einen Beitritt zur 3. Internationalen zu entscheiden hatten [16].
Um den Vorwurf abzuwenden, mit dem Referendum auch die Errungenschaften der 10. AHV-Revision zu gefährden, lancierten CNG und SGB mit Unterstützung der SP eine Volksinitiative "für die 10. AHV-Revision ohne Erhöhung des Rentenalters" ("Auffanginitiative"), mit welcher die Betreuungsgutschriften, das Rentensplitting und die vorteilhaftere Rentenformel gerettet werden sollen. Nach den Vorstellungen der Initianten könnte das Parlament nach Annahme der Initiative umgehend in einer Sondersession die unbestrittenen Neuerungen der 10. AHV-Revision wieder aufnehmen und in Kraft setzen [17].
Auf den 1. Januar des Berichtsjahres trat jener vorgezogene Teil der 10. AHV-Revision in Kraft, mit dem das Parlament die Lage der geschiedenen Frauen mit Kindern verbessern will. Pro Betreuungsjahr von Kindern unter 16 Jahren wird diesen Frauen - unabhängig davon, ob sie in dieser Zeit einer Erwerbstätigkeit nachgingen oder nicht - ein fiktiver Lohn angerechnet, der dreimal der einfachen AHV-Rente entspricht. Das kann zu einer Rentenerhöhung von mehreren Hundert Franken pro Monat führen. Bedingung ist allerdings, dass die Frauen im Zeitpunkt des Rentenbezugs nicht wieder verheiratet sind. Da sich die parlamentarische Beratung der 10. AHV-Revision verzögerte und zudem das Referendum gesichert schien, wurde auf Initiative der vorberatenden Kommission des Nationalrates dieser Bundesbeschluss um ein Jahr verlängert. Eine Motion Küchler (cvp, OW), den vorgezogenen Teil auf den 1.1.1996 in geltendes Recht zu überführen, wandelte der Ständerat auf Antrag des Bundesrates aus juristischen Gründen in ein Postulat um [18].
 
[8] Amtl. Bull. StR, 1994, S. 57 f. und 375; Amtl. Bull. NR, 1994, S. 356 und 667. Vgl. auch die Ausführungen des BR in Amtl. Bull. NR, 1994, S. 1202. Siehe SPJ 1993, S. 216.8
[10] Amtl. Bull. StR, 1994, S. 612.10
[11] BBl, 1994, V, S. 257 ff., 403 ff. und 407 ff. Einer von der SP mit 42 000 Unterschriften eingereichten Petition mit dem Inhalt, die Frage des Rentenalters der Frauen solle erst in der 11. AHV-Revision diskutiert werden, gab der NR mit 104:58 Stimmen keine Folge (Amtl. Bull. NR, 1994, S. 1880 f.).11
[12] Amtl. Bull. NR, 1994, S. 593 f. und 1377 ff.12
[13] Amtl. Bull. NR, 1994, S. 2458 f. 13
[14] Amtl. Bull. StR, 1994, S. 546 ff., 582 ff., 979 ff. und 1072 f.; Presse vom 10.6.94. Siehe SPJ 1993, S. 217 f.14
[15] Amtl. Bull. NR, 1994, S. 1342 ff., 1365 ff., 1676 und 1960 f.; BBl, 1994, III, S. 1804 ff. Für eine umfassende Würdigung der vom Parlament gegenüber dem ursprünglichen Vorschlag des BR eingeführten Neuerungen siehe Soziale Sicherheit, 1994, Nr. 6, S. 248 ff. und 259 ff.15
[16] Presse vom 26.5., 22.6., 22.8., 27.8., 5.9., 6.9., 22.9. 10.10., 11.10. und 21.11.94. Anfangs Juni demonstrierten rund 7000 Personen in Bern gegen die Erhöhung des Frauenrentenalters (Presse vom 2.6.94).16
[17] BBl, 1994, V, S. 399 ff. 17
[18] Amtl. Bull. NR, 1994, S. 1367 f. und 1959; Amtl. Bull. StR, 1994, S. 805 ff., 981 und 1072; AS, 1995, S. 510. Siehe SPJ 1992, S. 228. Die Besserstellung der geschiedenen Frauen und die Verlängerung der Beschlüsse von 1992 gelten sinngemäss auch für die IV (Gesch.ber., 1994, II, S. 61).18