Année politique Suisse 1994 : Politique sociale / Assurances sociales / Krankenversicherung
In der im Berichtsjahr erfolgten Differenzbereinigung zwischen den beiden Kammern erwiesen sich die Prämienverbilligungen für wirtschaftlich Schwächere, deren Finanzierung und die Modalitäten ihrer Ausrichtung als die Schicksalsartikel der gesamten Vorlage. Der Nationalrat kam hier dem Ständerat und den Kantonen insofern entgegen, als er zwar daran festhielt, dass die Kantone für die Finanzierung der Prämienverbilligungen die Hälfte der Bundessubventionen, nämlich 1 Mia Fr. beisteuern müssen, andererseits aber die Erhöhung der Kantonsbeiträge auf vier Jahre etappierte. Als weiteres Zugeständnis sollen die Kantone mit niedrigem Prämiendurchschnitt - was vor allem die Ostschweiz betrifft - ihren Beitrag kürzen dürfen, wenn die Prämienverbilligungen gleichwohl sichergestellt sind. Die grosse Kammer bestimmte, dass die dadurch freiwerdenden Bundesmittel jenen Kantonen zugute kommen sollen, die aus eigenen Beiträgen stärker zur Prämienverbilligung beitragen.
Der Nationalrat hielt zudem an der Verpflichtung der Versicherer zur
Gesundheitsförderung fest, akzeptierte aber einen Selbstbehalt bei der individuellen Prävention. Bekräftigt wurden auch das vom Ständerat abgelehnte Anhörungsrecht der Patientenorganisationen vor Abschluss eines Tarifvertrages, die weitgefasste, dem bisherigen Recht entsprechende Beschwerdelegitimation bei Tarifbeschwerden und die Verneinung des alleinigen Rechts der Kantonsregierungen, bei Streitigkeiten um die Tarifsetzung in öffentlichen Spitälern als Schiedsrichter aufzutreten. Der kleinen Kammer schloss sich der Nationalrat hingegen in der
Beschränkung der Globalbudgetierung auf den stationären Bereich und in der Begrenzung des Risikoausgleichs zwischen den Kassen auf zehn Jahre an. Auch in der Frage der Medikamentenabgabe durch die Ärzte fand sich der Nationalrat zu einem Kompromiss bereit. Die Selbstdispensation sollte zwar durch den Bund eingeschränkt werden, wobei aber auf den möglichen Zugang der Patienten zu einer Apotheke Rücksicht genommen werden müsste
[30].
Der
Ständerat lenkte bei der Frage der Tarifbeschwerde auf die Fassung des Nationalrates ein und schloss sich weitgehend auch beim Prämienverbilligungssystem an, lehnte allerdings aus Spargründen die Weiterverteilung der allenfalls frei werdenden Bundesbeiträge ab. Bei der
Selbstdispensation hielt er an der
kantonalen Regelungsbefugnis fest, übernahm aber vom Nationalrat das Kriterium der Apothekendichte. In der Frage der Tarifsetzung für öffentliche Spitäler im vertragslosen Zustand blieb die kleine Kammer hart
[31].
In einer weiteren Runde des Differenzbereinigungsverfahrens stimmte der Nationalrat dem Ständerat mit der einzigen Ausnahme der Regelung der Selbstdispensation zu. Diese Pattsituation machte die
Einberufung der Einigungskommission zwischen den vorberatenden Kommissionen beider Räte notwendig. Diese entschied im Sinne des Ständerates, worauf die Gesamtvorlage von beiden Kammern stillschweigend angenommen wurde. In der Gesamtabstimmung passierte das neue Gesetz im Ständerat mit 35:1 und im Nationalrat mit 124:38 Stimmen bei 14 Enthaltungen. Abgelehnt wurde die Vorlage lediglich von der SD/Lega, der Freiheitspartei (ex-AP), der EdU und der PdA sowie von den Rechtsexponenten der bürgerlichen Parteien
[32].
Bereits bevor die Räte das neue Gesetz definitiv verabschiedet hatten, erklärte die Krankenkasse Artisana, dass sie das
Referendum dagegen ergreifen werde. Zwei weitere Kassen (Swica und Winterthur) und vier Ärztevereinigungen aus dem Bereich der Komplementärmedizin machten ebenfalls für das Referendum mobil, so dass dieses im Laufe des Sommers mit 148 952 gültigen Unterschriften eingereicht werden konnte
[33].
Die
Gegner des neuen KVG fochten mit der Behauptung, das neue Gesetz sei zu dirigistisch und zu sehr der Schulmedizin verhaftet, zu wenig wettbewerbsorientiert und zu teuer für die öffentliche Hand und die Prämienzahler. Der Ausbau in der Grundversicherung werde zu einem massiven Aufschlag bei den Prämien führen, der in erster Linie den Mittelstand treffe. Die
Befürworter bestritten die Möglichkeit eines einmaligen Prämienanstiegs nicht, argumentierten aber, die verbesserte Grundversicherung mache für viele die teuren Zusatzversicherungen überflüssig, und sie verwiesen auf die vorgesehenen Prämienverbilligungen, die rund einem Drittel der Bevölkerung zugute kommen sollen
[34].
Wegen der Festsetzung ihres Beitrages auf die Hälfte der Bundessubventionen äusserten viele
Kantone - wenn auch eher hinter vorgehaltener Hand - gewichtige Vorbehalte gegen das neue Gesetz. Die gezielte Prämienverbilligung fand zwar durchaus Beifall, doch sollte ihrer Meinung nach das Ausmass der Subventionen nicht über den heutigen Stand, wo der Bund 1,3 Mia und die Kantone rund 600 Mio Fr. bezahlen, ausgedehnt werden. Sie vertraten die Ansicht, eine zusätzliche finanzielle Belastung der Kantone sei nicht zu verkraften, da ihnen das neue Gesetz neben den bereits bestehenden Ausgaben im Gesundheitswesen, zum Beispiel durch die Übernahme der Spitaldefizite, zusätzliche Lasten aufbürde, so etwa die Begleichung der Mehrkosten bei medizinisch bedingten ausserkantonalen Spitalaufenthalten. Acht Kantonsregierungen - AG, BE, SH, SO, SG, SZ, TG und ZH - drohten schliesslich unverhohlen mit Steuererhöhungen, falls das revidierte KVG vom Volk angenommen werde
[35].
In einer echten Zitterpartie, in welcher das definitive Resultat erst sehr spät feststand, wurde das neue Krankenversicherungsgesetz
mit rund 52 % Ja-Stimmen von den Urnengängern knapp
gutgeheissen. Ausschlaggebend für das positive Ergebnis waren die hohen Ja-Stimmenanteile im Tessin und in der Westschweiz
[36].
Totalrevision Krankenversicherungsgesetz
Referendumsabstimmung vom 4. Dezember 1994
Beteiligung: 43,8
Ja: 1 021 175 (51,8%)
Nein: 950 360 (48,2%)
Parolen:
- Ja: FDP (15*), SP, CVP (6*), GP, LP (1*), LdU (1*), EVP; Arbeitgeberverband, Vorort, SGB, CNG, Apotheker-Verein, Patienten- und Konsumentenorganisationen, Rentnerverband, Krankenkassenkonkordat.
- Nein: SVP (6*), FPS, SD, Lega, PdA (1*), EDU; SGV, VESKA, Vereinigung der Privatkliniken.
- Stimmfreigabe: FMH (11*), SBV, Sanitätsdirektorenkonferenz.
* In Klammer Anzahl abweichender Kantonalsektionen
Die Vox-Befragung zur Abstimmung zeigte klar, dass die beiden Themenkreise Solidarität (Obligatorium der Versicherung, unbeschränkte Leistungspflicht bei Spitalaufenthalten) und Bedürfnis nach Eindämmung der Kostensteigerung die wichtigsten Beweggründe für ein "Ja"waren. Die Nein-Stimmen rekrutierten sich primär aus dem Lager jener, die einen Anstieg der individuellen Prämien befürchteten.
[30]
Amtl. Bull. NR, 1994, S. 13 ff. und 34 ff. Der Entscheid für die Erhöhung des Kantonsbeitrages fiel nur knapp mit 88:85 Stimmen. Ein Postulat der SGK-NR für eine Prämiengleichheit von Frau und Mann auch in den Zusatzversicherungen wurde vom Plenum recht deutlich abgelehnt (
Amtl. Bull. NR, 1994, S. 42 ff.).30
[31]
Amtl. Bull. StR, 1994, S. 89 ff.31
[32]
Amtl. Bull. NR, 1994, S. 357 ff., 493 f. und 663 f.;
Amtl. Bull. StR, 1994, S. 89 ff., 308 und 374;
BBl, 1994, II, S. 236 ff.; Presse vom 19.3.94.32
[33]
BBl 1994, III, 1256 f.;
BZ, 16.3. und 13.4.94;
Bund, 10.5.94;
NZZ, 18.8.94.33
[34]
Soziale Sicherheit, 1994, Nr. 5, S. 199 ff. (Übersicht über die Argumente der Befürworter und Gegner); Presse vom 6.9.-3.12.94. Siehe dazu auch die Stellungnahme des BR in
Amtl. Bull. NR, 1994, S. 1942 f.
Das Gesetz wurde von einem Komitee "für eine zukunftsgerichtete Krankenversicherung" unterstützt, dem neben rund 75 bürgerlichen Abgeordneten auch einige Sozialdemokraten angehörten. Bekämpft wurde es von einem "NEIN zum unbezahlbaren Krankenversicherungsgesetz", das vom Zürcher FDP-NR Cincera koordiniert wurde (
TA, 16.10.94).34
[35]
TA, 10.1.94;
Bund, 30.8.94;
Blick, 30.10.94.35
[36]
BBl, 1995, I, S. 278 ff.36
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