Année politique Suisse 1994 : Politique sociale / Groupes sociaux
 
Flüchtlinge
Im Vergleich zum Vorjahr ging die Zahl der Asylgesuche um 8605 oder 34,8% auf 16 134 zurück. Trotzdem erhöhte sich der Gesamtbestand der Flüchtlinge, die sich aufgrund der Asyl- oder Ausländergesetzgebung in der Schweiz aufhalten, im Laufe des Berichtsjahres um 3021. Ende Jahr betrug er 121 342 Personen, nämlich 27 426 anerkannte Flüchtlinge, 23 690 Asylsuchende mit kantonalen fremdenpolizeilichen Bewilligungen aus humanitären Gründen, 24 936 vorläufig Aufgenommene und 15 695 abgewiesene Asylbewerber, für die der Wegweisungsvollzug noch nicht möglich war, sowie knapp 30 000 Personen mit laufendem Verfahren. Ein Viertel der neuen Gesuchssteller stammte aus Restjugoslawien (v.a Kosovo), 20,7% aus Bosnien-Herzegowina, 9,2% aus Sri Lanka und je 6,6% aus der Türkei und Angola sowie 5,5% aus Somalia.
1994 erhielten 2937 Asylbewerber (1993: 1831) einen positiven Anerkennungsbescheid, während für 20 557 Personen (22 255) das Verfahren mit einer Gesuchsabweisung endete. Damit ergibt sich in erster Instanz eine Anerkennungsquote von 18,2% (14,7%). Am höchsten lag diese mit 47,1% (26,1%) bei der türkischen Bevölkerung (Kurden), gefolgt von Asylbewerbern aus Bosnien-Herzegowina mit 22,7% (46,7%) und Restjugoslawien mit 8,9% (6,8%). Im Berichtsjahr reisten 2346 Gesuchssteller freiwillig aus, 1588 Personen wurden nach negativem Bescheid in ihre Heimatstaaten und 267 in Drittländer weggewiesen. Über den Verbleib von 8601 Personen konnte das Bundesamt für Flüchtlinge (BFF) keine gesicherte Aussage machen [6].
Der Bundesrat beantragte dem Parlament, die Initiative der Schweizer Demokraten "für eine vernünftige Asylpolitik" für ungültig zu erklären und somit gar nicht zur Abstimmung zu bringen. Die 1992 eingereichte Initiative will den Flüchtlingsbegriff einschränken und die Asylgewährung zu einem freiwilligen staatlichen Akt erklären. Illegal eingereiste Asylbewerber sollen ohne Prüfung ihres Gesuches ausgeschafft werden, selbst wenn damit eine individuelle Gefährdung verbunden sein könnte. Dieser letzte Punkt stellt nach Auffassung des Bundesrates eine krasse Verletzung des Prinzips des Non-refoulement dar, welches besagt, dass niemand in ein Land zurückgeschoben werden darf, in dem ihm Verfolgung, Folter oder Lebensgefahr drohen. Dieser Grundsatz ist in der Genfer Flüchtlingskonvention verankert und zudem aus der Europäischen Menschenrechtskonvention sowie den UNO-Menschenrechtspakten abzuleiten. Darüber hinaus ist er gemäss der neueren schweizerischen und internationalen Rechtslehre Teil des "zwingenden Völkergewohnheitsrechts", welches in einem Rechtsstaat nie verletzt werden darf, weshalb die von der SD verlangte unbedingte Ausschaffung auch dann völker- und menschenrechtswidrig wäre, wenn die Schweiz die entsprechenden Abkommen und Konventionen aufkündigen würde. Falls das Parlament dem Antrag des Bundesrates folgt, würde erstmals in der Geschichte des Bundesstaates eine Initiative aus materiellen Gründen für ungültig erklärt [7].
Bei der 1993 zustandegekommenen Initiative der SVP "gegen die illegale Einwanderung" stellt sich die Frage der Ungültigerklärung nicht, da sie das Non-refoulement-Prinzip ausdrücklich einhält. Der Bundesrat empfiehlt sie aber ebenfalls zur Ablehnung, da sie inhaltlich nichts bringe, vor allem nicht die angestrebte Vereinfachung der Verfahren, und zu einander widersprechenden Ergebnissen führe. Zudem habe sich die Situation im Asylbereich markant entspannt, weshalb eine Verschärfung der Asylpolitik nicht angezeigt sei. Die SVP-Initiative verlangt, dass auf Asylgesuche illegal eingereister Asylbewerber nur eingetreten wird, falls eine individuelle Gefährdung wahrscheinlich erscheint. Zudem soll das allfällige Erwerbseinkommen der Asylsuchenden von den staatlichen Behörden verwaltet werden [8].
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Gesetzgebung und Vollzug
Der Bundesrat leitete das Vernehmlassungsverfahren zur Totalrevision des Asylgesetzes und parallel dazu auch zu Änderungen des Bundesgesetzes über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer (Anag) ein. Es geht dabei nicht um eine grundsätzliche Neuorientierung, sondern zu einem grossen Teil um formelle Retouchen. Angestrebt wird eine verbesserte Übersichtlichkeit des Gesetzestextes und die Überführung des aus dem Jahr 1990 datierenden und auf Ende 1995 auslaufenden dringlichen Bundesbeschlusses über das Asylverfahren in das ordentliche Recht.
Der Vorentwurf übernimmt denn auch die asylrechtlichen Grundsätze sowie die Bestimmungen zum Asylverfahren und zur Rechtsstellung der Asylsuchenden weitgehend unverändert aus der bisherigen Praxis. Als zentrale Neuerung soll ein Sonderstatus für Gewaltflüchtlinge geschaffen werden. Dieser würde es erlauben, Schutzbedürftige vorübergehend in der Schweiz aufzunehmen, gleichzeitig aber sicherzustellen, dass sie nach einer Normalisierung der Lage in ihrem Heimatland wieder dorthin zurückkehren. Die Betreuung dieser Schutzsuchenden soll deshalb nicht auf Integration, sondern auf Rückkehrfähigkeit ausgerichtet werden.
In der Vernehmlassung wurde die Aufnahme von schutzbedürftigen Gewaltflüchtlingen kaum bestritten. Die FDP äusserte aber die Befürchtung, dass das vorgesehene Recht auf Familiennachzug die Fürsorgekosten weiter anwachsen lasse, was angesichts der Finanzlage von Bund und Kantonen nicht zu verkraften sei. Die CVP möchte den Begriff der Schutzbedürftigen klarer und umfassender umschrieben sehen und insbesondere eine Beistandsregel für Minderjährige einführen. Die SVP verlangte, dass die Forderungen ihrer Initiative "gegen die illegale Einwanderung" in die Revision eingebaut werden. Die Frage der Gewaltflüchtlinge sei hingegen separat zu regeln [10].
Da auf Wunsch der bürgerlichen Bundesratsparteien sowie einiger Kantone und Organisationen die Vernehmlassung um zwei Monate verlängert wurde, kann der von der Regierung für die Totalrevision vorgesehene Zeitplan nicht mehr eingehalten werden, weshalb der auf Ende 1995 befristete dringliche Bundesbeschluss von 1990 über das Asylverfahren verlängert werden muss. Der Bundesrat unterbreitete dem Parlament einen entsprechenden Antrag.
Im Rahmen der dringlichen Massnahmen zur Entlastung des Bundeshaushalts erhöhte der Bundesrat den Lohnabzug, den die Asylbewerber - und neu auch die vorläufig Aufgenommenen - zur Rückerstattung von Fürsorge- und Vollzugskosten zu entrichten haben, von sieben auf zehn Prozent. Die jährliche Höchstsumme, die dafür vom Erwerbseinkommen zurückbehalten wird, wurde von 3600 auf 4800 Fr. angehoben. Zudem will der Bundesrat die Kosten für die Unterbringung der Flüchtlinge den Kantonen nur noch pauschal abgelten. Von diesen Massnahmen erhofft er sich Einsparungen von rund 30 Mio Fr. pro Jahr. Das Parlament stimmte diesen Vorschlägen praktisch diskussionslos zu. Damit er bereits auf den 1. Januar 1995 in Kraft treten kann, wurde der Beschluss für dringlich erklärt [12].
Die Geschäftsprüfungskommission (GPK) des Nationalrates legte ihren Inspektionsbericht zum Vollzug im Flüchtlingsbereich vor und erteilte dabei Bund, Kantonen und Hilfswerken insgesamt gute Noten. Die GPK ortete allerdings zwei Differenzen zwischen ihr und dem BFF. Sie kritisierte die Praxis des Amtes, Asylsuchende ohne Identitätspapiere bei den Empfangszentren zurückzuweisen mit dem Auftrag, einen Ausweis zu beschaffen, da nicht in allen Fällen erwiesen sei, dass die Ausweise in betrügerischer Absicht vernichtet oder versteckt worden seien, weshalb mit diesem Vorgehen durchaus auch völkerrechtswidrige Zustände geschaffen werden könnten. Sie schlug vor, die Flüchtlinge jeweils vorläufig in eine Unterkunft aufzunehmen. Die zweite Differenz betraf die Einschätzung der Gefahren in den Herkunftsländern. Hier sollten die Behörden die Erfahrung und das Wissen der Hilfswerke vermehrt einbeziehen. Generell empfahl die GPK dem Bundesrat, die Kapazitäten im Asylwesen trotz Sparmassnahmen nicht weiter zu reduzieren und die gegenwärtige Entspannung im Asylbereich zur Vorbereitung auf neue Flüchtlingsströme zu nutzen [13].
In seiner Stellungnahme zum Bericht stellte sich der Bundesrat in den beiden Differenzpunkten vollumfänglich hinter die Praxis des BFF. In der Frage der Asylsuchenden ohne Ausweispapiere vertrat er die Ansicht, die Lösung der GPK würde nicht nur zu einem beachtlichen Mehraufwand, sondern auch zu langwierigeren Verfahren führen. Zudem würden die Wegweisungen erheblich erschwert. Zum Einbezug der Hilfswerke bei der Lagebeurteilung in den Herkunftsländern meinte er, die Flüchtlingsorganisationen seien bereits heute in diesem Bereich zur Mitarbeit aufgefordert. Die Diskussionen würden sich aber in der Regel nicht um die jeweilige Lage in bestimmten Gebieten drehen, sondern um die Konsequenzen, die daraus zu ziehen seien. Hier den Hilfswerken ein Mitspracherecht einzuräumen, würde zu einer Vermischung der Verantwortlichkeiten in der Asylpolitik und letzlich zu einer Schwächung der Legitimität des heutigen Asylverfahrens führen [14].
Nachdem die Asylrekurskommission die Zumutbarkeit der Rückschaffungen von Tamilinnen und Tamilen unter gewissen Bedingungen bestätigt hatte, unterzeichnete die Schweiz als erstes Land mit Sri Lanka eine Vereinbarung über die koordinierte, begrenzte und zeitlich gestaffelte Rückführung abgewiesener Asylbewerber in den Inselstaat. Den betroffenen Tamilen soll eine Rückkehr "in Sicherheit und Würde" gewährleistet werden. Nach dem Prinzip "last in - first out" wurden jene Asylbewerber für eine baldige Repatriierung vorgesehen, welche erst in den letzten Jahren in die Schweiz eingereist sind und deren Gesuch bereits rechtskräftig abgelehnt ist. Den rund 6000 Tamilinnen und Tamilen, die seit mehr als vier Jahren hier leben, will der Bundesrat hingegen in der Regel die vorläufige Aufnahme gewähren. Die ab Mitte Juli unter der Obhut des UNO-Hochkommissariats für Flüchtlinge durchgeführten Wegweisungen gerieten allerdings immer wieder ins Stocken, da die Behörden in Colombo die erforderlichen Reisedokumente nur sehr schleppend ausstellten. Über 3000 Tamilinnen und Tamilen erhielten im Berichtsjahr einen Ausweisungsbescheid, doch nur 94 konnten tatsächlich ausgeschafft werden [15].
Auch bei der Rückschaffung der Kosovo-Albaner mit negativem Asylentscheid, gegen die sich Hilfswerke, kirchliche Kreise und einzelne Politiker vergeblich zur Wehr setzten, ergaben sich immer wieder Verzögerungen, da sich die serbischen Behörden wenig kooperativ bei der Beschaffung der nötigen Reisepapiere zeigten. Als Reaktion auf neue Restriktionen der Regierung in Belgrad verlängerte der Bundesrat Ende November die Wegweisungsfristen für Asylsuchende aus dem Kosovo bis Ende Januar 1995 [16]. Die Aufenthaltsdauer jener Bosnierinnen und Bosnier, die als Saisonniers, Kurz- und Jahresaufenthalter oder als Besucher eingereist sind, wurde aufgrund des Krieges in ihrem Heimatland bis Ende April 1995 verlängert [17].
Für ein geplantes Ambulatorium des Schweizerischen Roten Kreuzes zur Behandlung von Folteropfern siehe oben, Teil I, 7b (Opferhilfe).
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Internationale Zusammenarbeit
Bei einem Treffen mit den Innen- und Justizministern der EU in Luxemburg brachte Bundesrat Koller erneut den Wunsch der Schweiz nach einem baldigen Abschluss einer Parallelvereinbarung zum Dubliner Erstasylabkommen vor, obwohl die Konvention erst von acht EU-Staaten ratifiziert und noch nicht in Kraft ist. Ein derartiges Abkommen würde nach Auffassung des Bundesrates den administrativen Aufwand im Asylverfahren wesentlich erleichtern und praktisch ausschliessen, dass die von der EU abgewiesenen Asylbewerber ein Gesuch in der Schweiz stellen. Laut Koller könnte sich damit die Zahl der Asylgesuche um bis zu 15% verringern [18].
 
[6] Presse vom 17.1.95. Siehe auch SPJ 1993, S. 232.6
[7] BBl, 1994, II, S. 1354 f. Siehe auch SPJ 1992, S. 246 f. Vgl. dazu auch oben, Teil I, 1c (Volksrechte).7
[8] BBl, 1994, III, S. 1486 ff. Siehe auch SPJ 1993, S. 233.8
[10] NZZ, 15.11.94. 10
[12] BBl, 1994, V, S. 581 ff.; Amtl. Bull. NR, 1994, S. 2039 ff. und 2542 f.; Amtl. Bull. StR, 1994, S. 1215 und 1360; AS, 1994, S. 2876 ff. Eine vermehrte Pauschalisierung der Bundesleistungen an die Kantone war auch von der GPK in ihrem Bericht zum Vollzug im Asylwesen postuliert worden (BBl, 1994, V, S. 505 f.).12
[13] BBl, 1994, V, S. 477 ff. Die GPK verlangte im November vom EJPD einen Bericht zu den - im Asylverfahren oftmals ausschlaggebenden - Botschaftsabklärungen insbesondere in der Türkei, da diese möglicherweise den Anforderungen der Objektivitàt nicht immer entsprechen (SoZ, 16.4.95). Die Forderung der GPK war durch eine Interpellation Fankhauser (sp, BL) ausgelöst worden (Amtl. Bull. NR, 1994, S. 1215 ff.).13
[14] BBl, 1994, V, S. 520 ff.14
[15] Presse vom 6.1., 14.1., 27.7. und 28.12.94 sowie 17.1.95; TA, 11.2. und 21.4.94; NZZ, 19.4.94; LNN, 20.8.94; BZ, 29.10.94. Amnesty International und die Schweizer Flüchtlingshilfe erachteten allerdings die Rückschaffung der Tamilen selbst in den Süden des Landes als nicht zumutbar (NQ, 23.2.94; NZZ, 19.4.94). Siehe dazu auch M. Marugg, "Sichere Rückkehr von Tamilen in Unsicherheit", in Asyl, 1994, Nr. 1, S. 6 ff.15
[16] TA, 14.1.94; BZ, 11.5. und 29.10.94; WoZ, 24.6.94; NZZ, 26.11.94; LNN, 22.12.94. Von September 1993 bis Juli 1994 gewährten 26 protestantische und katholische Berner Kirchgemeinden Kosovo-Albanern Kirchenasyl. Mitglieder des jeweiligen Kirchgemeinderates sowie die Leiter einzelner Pfarreien - unter ihnen der inzwischen zum Bischof von Basel gewählte Hansjörg Vogel - wurden daraufhin erstinstanzlich zu Bussen verurteilt (TA, 29.7.94; NZZ, 14.10.94). Zur Problematik des Kirchenasyls siehe die Ausführungen von BR Koller in Amtl. Bull. NR, 1994, S. 2239 f.; CdT, 25.3.94; BZ, 21.10.94. Vgl. auch SPJ 1993, S. 233 f.16
[17] Presse vom 3.3.94; TA, 21.4.94.17
[18] Presse vom 22.6.94. Siehe auch SPJ 1993, S. 234. Die Schweiz schloss mit Ungarn ein Vereinbarung ab, welche die gegenseitige Rückübernahme von Ausländern regelt, die sich unbefugt in einem der beiden Staaten aufhalten (Presse vom 5.2.94).18