Année politique Suisse 1994 : Politique sociale / Groupes sociaux
 
Familienpolitik
Die Analyse der Daten der Volkszählung 1990 ergab, dass das Modell der traditionellen Kleinfamilie in der Schweiz nach wie vor stark verbreitet ist. Fast 60% der Bevölkerung lebten am Stichdatum in einem Familienhaushalt mit Kindern. Davon waren nur 5,5% Einelternhaushalte und 1,4% Konkubinatspaare. Allerdings hat der Anteil der Ehepaarhaushalte mit Kindern seit 1980 leicht abgenommen. Wenn in diesem Zeitraum nicht die Zahl der ausländischen Familien mit Kindern zugelegt hätte, wäre der Rückgang noch deutlicher ausgefallen. Alternative Lebensformen (Konkubinat, Singles oder Wohngemeinschaften) haben sich vor allem unter den 20- bis 30jährigen ausgebreitet. Die mittleren Jahre verbringen rund zwei Drittel in der Kleinfamilie, nach dem 45. Altersjahr werden die Lebensformen wieder vielfältiger. Nach wie vor ziehen sich die meisten Mütter nach der Geburt eines Kindes aus dem Erwerbsleben zurück. Wenn die Kinder etwas grösser sind, arbeiten die Mütter aber vermehrt ausser Haus. Bei den Frauen mit minderjährigen Kindern stieg ihr Anteil zwischen 1980 und 1990 von 36 auf 48%. Überdurchschnittlich erwerbstätig sind Mütter mit geringer und solche mit überdurchschnittlicher Berufsbildung [32].
Zum Abschluss des Internationalen Jahres der Familie präsentierte die von der Vereinigung Pro Familia im Auftrag des Bundesrates eingesetzte Kommission einen detaillierten Forderungskatalog. Sie verlangte insbesondere die möglichst rasche Einführung einer Mutterschaftsversicherung, eine einheitliche Regelung der Familien- und Kinderzulagen auf Bundesebene, die Anerkennung der unbezahlten Leistungen der Familien sowie die Sicherung eines Familienlastenausgleichs, um so die Vereinbarkeit von Familie, Arbeit und Schule zu realisieren. Weiter setzte sie sich für die raschestmögliche und vorbehaltlose Ratifikation der UNO-Konvention über die Rechte des Kindes ein. Vom Bundesrat erwartete sie schliesslich, dass er einen unabhängigen Rat für Familienfragen einsetze, der die Vernetzung und den Informationsaustausch von Wissenschaft, Politik, Institutionen und Gesellschaft sicherstellen soll.
Die für die Familienpolitik zuständige Bundesrätin Dreifuss konnte darauf hinweisen, dass einige der Forderungen in Prüfung sind oder sich bereits im Stadium der Gesetzgebung befinden (Mutterschaftsversicherung, Ratifikation der UNO-Konvention). Skeptisch äusserte sich Dreifuss zum Vorschlag, neue eidgenössische Gremien für Familienfragen zu schaffen. Sie schlug stattdessen vor, ein Koordinationsorgan ins Leben zu rufen, in dem die Bundesverwaltung, die Kantone, die Gemeinden, die Wissenschaft sowie die privaten Familien-, Frauen- und Jugendorganisationen vertreten wären [33].
Wissenschaftliche Studien, die eine Art Bestandesaufnahme der schweizerischen Familienpolitik erstellten, untermauerten die Forderungen der Kommission. Erstmals wurden die staatlichen finanziellen Leistungen zugunsten der Familien erhoben. 1990 machten sie rund 2,1% des Bruttoinlandproduktes (BIP) aus, während sie in den EU-Staaten im Durchschnitt knapp 3% des BIP betrugen. Dies hängt wohl auch damit zusammen, dass die Schweiz als einziges EU- oder Efta-Land immer noch keine Mutterschaftsversicherung kennt [34].
Für die Bestrebungen zur Einführung einer Mutterschaftsversicherung siehe oben, Teil I, 7c (Mutterschaftsversicherung). Zu einem Familienmanifest der CVP vgl. unten, Teil IIIa (CVP). Eine Motion Frick (cvp, SZ) für familiengerechte Steuern wird oben, Teil I, 5 (Direkte Steuern) behandelt.
Die vorberatende Kommission des Nationalrates unterstützte - wenn auch nur knapp - eine parlamentarische Initiative Zisyadis (pda, VD), welche die Betreuung von Kleinkindern als öffentliche Aufgabe der Kantone in der Verfassung verankern will. Die Kommission vertrat die Ansicht, dass das Angebot an ausserhäuslichen Tagesstrukturen für Kinder im vorschulpflichtigen Alter nicht mit den gesellschaftlichen Veränderungen Schritt gehalten habe. Sie erinnerte auch daran, dass die UNO-Kinderrechtskonvention die unterzeichnenden Staaten auffordert, die Betreuung der Kinder von erwerbstätigen Eltern sicherzustellen [35].
Der Kanton Tessin wies zukunftsweisende Wege für die Unterstützung junger Familien. Die Regierung legte einen Gesetzesentwurf vor, der über zwei lohn- und haushaltsabhängige Zulagen allen Familien mit Kindern ein staatlich garantiertes Mindesteinkommen sichern will. Die beiden neuen Zulagen orientieren sich an den AHV-Ergänzungsleistungen, die ein minimales verfügbares Einkommen nach Abzug von Miete und Sozialversicherungen festlegen. Die Leistungen verstehen sich als ein jedem Kind bis zum Erreichen des 15. Altersjahrs zustehendes Mindesteinkommen, mit welchem minderbemittelten Eltern und vor allem alleinerziehenden Frauen die Inanspruchnahme von Fürsorgeleistungen erspart werden soll [36].
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Schwangerschaftsabbruch
Eine im Vorjahr von der Zürcher SP-Nationalrätin Haering Binder eingereichte parlamentarische Initiative für die Fristenlösung, die von 62 Abgeordneten aus SP, FDP, LdU und GPS mitunterzeichnet wurde, nahm eine erste Hürde in der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates, welche die Initiative mit sechs zu drei Stimmen bei drei Enthaltungen unterstützte. Damit wurde die seit 1987 praktisch blockierte Diskussion um dieses umstrittene Thema wieder lanciert [37].
 
[32] Lit. Bundesamt.32
[33] Presse vom 10.12.94. Vgl. SPJ 1993, S. 238. Eine Motion Dünki (evp, ZH) zur Harmonisierung der Kinderzulagen auf Bundesbene wurde von Sandoz (lp, VD) bekämpft und konnte deshalb nicht behandelt werden (Amtl. Bull. NR, 1994, S. 2459 f.).33
[34] Lit. Gilliand/Cuénod; NZZ, 19.10.94; NQ, 10.11.94; Cash und Bund, 9.12.94; Presse vom 10.12.94.34
[35] Verhandl. B.vers., 1994, IV, S. 27; NQ, 11.1. und 2.2.94. Zur Situation der ausserhäuslichen Kinderbetreuung in der Schweiz und im Ausland siehe Bund, 2.9.94.35
[36] Neben dem Kanton Tessin kennen die folgenden Kantone Bedarfsleistungen zugunsten von Eltern: FR, GL, GR, LU, SH, SG, VD, ZG und ZH (Soziale Sicherheit, 1995, Nr. 1, S. 23 ff.). Das Tessin ist übrigens auch der einzige Schweizer Kanton, in dem die Kinder ab drei Jahren ganztägig im Kindergarten betreut werden (SGT, 28.3.94).36
[37] Verhandl. B.vers., 1994, I, S. 31; Presse vom 13.1.94. Siehe auch B. Fischer, "Schwangerschaftsabbruch in der Schweiz - Auf dem Weg zur Fristenlösung?", in emanzipation, 1994, Nr. 2, S. 16 ff.37