Année politique Suisse 1995 : Eléments du système politique / Institutions et droits populaires / Regierung
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Regierungsreform
Der Nationalrat befasste sich als Zweitrat mit der "Regierungsreform 93". Sehr umstritten war bereits die Eintretensfrage. Es lagen insgesamt ein Nichteintretensantrag Blocher (svp, ZH) - dieser wurde später zurückgezogen - und vier Rückweisungsanträge vor. Zwei dieser Anträge wollten die Vorlage an den Bundesrat zurückweisen, mit dem Auftrag, eine Erhöhung der Zahl der Bundesräte vorzuschlagen resp. die verfassungsmässigen Voraussetzungen für die Einführung eines parlamentarischen Regierungssystems zu schaffen (Schmid, gp, TG resp. LdU/EVP-Fraktion). Die beiden anderen Rückweisungsanträge stammten von der SP und der SVP; sie beabsichtigten, die unter Referendumsdrohung stehende Frage der Schaffung von zusätzlichen Staatssekretärsposten von den anderen, unbestrittenen Reorganisationsvorschlägen abzutrennen. Dabei war allerdings die Haltung der beiden Parteien zur Einstellung zusätzlicher Staatssekretäre nicht identisch: die SP stand zu diesem Beschluss, die SVP befürwortete stattdessen ein zweistufiges Regierungssystem mit einem Leitungskollegium und Fachministern. Mit 89 zu 74 Stimmen setzte sich der Vorschlag der SP durch, die Vorlage in zwei Beschlüsse aufzuteilen [20].
Das Eintreten auf den Beschluss A (Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetz, welches dem Bundesrat freie Hand zur Organisation der Departemente erteilt) war unbestritten. Die Differenzen zum Ständerat waren von untergeordneter Bedeutung. Immerhin fand die vom Ständerat eingeführte Vorschrift, dass bei Abstimmungen im Bundesrat Stimmenthaltung nicht mehr zulässig sein soll, vor dem Nationalrat keine Gnade. In der Gesamtabstimmung wurde dieser Teil der Reform mit 121:1 Stimmen (bei 6 Enthaltungen) gutgeheissen [21].
Beim Beschluss B (Schaffung von zusätzlichen Staatssekretärsposten) blieb ein von den Fraktionen LdU/EVP, SD/Lega und einem Teil der SVP unterstützter Nichteintretensantrag Steinemann (fp, SG) mit 85:51 Stimmen in der Minderheit. In der Detailberatung schloss sich der Nationalrat weitgehend den Beschlüssen des Ständerates an. In der Frage der Zahl der Staatssekretäre bestätigte er den Entscheid für maximal zehn; ein Antrag Loeb (fdp, BE) für höchstens 15 wurde deutlich abgelehnt. Der Nationalrat strich jedoch die vom Ständerat eingeführte Wahlbestätigung durch die Bundesversammlung. Gegen eine parlamentarische Bestätigung hatte sich vehement die SP eingesetzt, die befürchtete, dass damit die bürgerliche Ratsmehrheit die Personenauswahl der sozialdemokratischen Bundesräte nach parteipolitischen Gesichtspunkten bestimmen würde. In der abschliessenden Gesamtabstimmung waren dann freilich die Gegner des Entwurfs in der Mehrheit; mit Ausnahme von LdU/EVP, SD/Lega und FP, welche die Vorlage geschlossen ablehnten, waren alle Fraktionen gespalten [22].
Eigentlich wäre nun nur noch eine Differenzbereinigung für den Beschluss A (Organisation der Departemente) möglich gewesen. Der Ständerat wollte jedoch an den zusätzlichen Staatssekretären zur Entlastung des Bundesrates festhalten. Er folgte deshalb dem Antrag seiner Kommission, die Vorlage wieder zu einem einzigen Beschluss zu vereinigen. Dies erlaubte es, den vom Nationalrat zuerst abgetrennten und dann abgelehnten Beschluss B (Staatssekretäre) wieder in die Beratung zu ziehen. Bei der Bereinigung der Wahlformel für die Staatssekretäre stimmte der Rat einem von Petitpierre (fdp, GE) vorgeschlagenen Kompromiss zu: im Organisationsgesetz übernahm er die Formel des Nationalrats für eine fakultative Bestätigung, im Geschäftsverkehrsgesetz hielt er aber fest, dass diejenigen Sekretäre, welche die Regierung vor dem Parlament vertreten, durch das Parlament - in globo - bestätigt werden müssen. An seinem Entscheid, dass bei Abstimmungen im Bundesrat Stimmenthaltung nicht zulässig sein solle, hielt er fest.
Gegen die Opposition von FP - welche ihre Referendumsdrohung wiederholte -, SVP und LdU/EVP beschloss der Nationalrat auf die Vorlage wieder einzutreten. In bezug auf die Wahl der Staatssekretäre schloss er sich der kleinen Kammer an, eröffnete dem Parlament aber die Möglichkeit, einzelne Namen aus der Liste zu streichen. In der Frage, ob sich Bundesräte bei Abstimmungen im Kollegium der Stimme enthalten dürfen, gab er hingegen dem Ständerat nach. Die bereinigte Vorlage fand auch die Zustimmung des Ständerats. In der Schlussabstimmung sprachen sich 91 Nationalräte für die Vorlage aus, 62 (v.a. aus FP, SVP und FDP) lehnten sie ab, während sich 23 (v.a. aus der SP) der Stimme enthielten; in der kleinen Kammer lautete das Stimmenverhältnis 40:2 [23].
Die sich vor allem aus rechtsbürgerlichen Kreisen rekrutierenden Gegner der Reform machten ihre Drohung mit dem Referendum wahr. Unmittelbar nach der Schlussabstimmung formierte sich ein von Steinemann (fp, SG), Früh (fdp, AR), Seiler (svp, BE) und Schmidhalter (cvp, VS) präsidiertes "Komitee gegen eine aufgeblähte Bundesverwaltung mit überflüssigen Staatssekretären". Unterstützung fanden sie bei der AUNS; mit der Unterschriftensammlung wurde ein Berner PR-Büro betraut. Noch vor Jahresende waren die benötigten 50 000 Unterschriften beisammen [24].
Bereits während der parlamentarischen Beratungen begann der Bundesrat mit der Vorbereitung der angestrebten Verwaltungsreorganisation, welche mit dem neuen Gesetz in seine Kompetenz fallen wird. Dabei konnte im Regierungskollegium vorerst kein Konsens über die Neuverteilung bestimmter Ämter auf die Departemente erzielt werden. Ende November beschloss deshalb der Bundesrat, die bisher bei der Bundeskanzlei angesiedelte Projektleitung selbst zu übernehmen und zudem eine externe Beraterfirma beizuziehen. Die zweite Phase der Regierungsreform, welche sich mit einer Neustrukturierung des Exekutivgremiums selbst befassen soll, wurde vorläufig auf Eis gelegt. Die beratende Expertengruppe unter Prof. Eichenberger löste sich auf Jahresende auf, nachdem sie zum Abschluss noch drei Studien zu möglichen Reformmodellen vorgelegt hatte. Neben den beiden Varianten Erhöhung der Zahl der Bundesräte resp. zweistufiges Regierungsorgan untersuchte sie dabei auch eine neue Variante: achtköpfiger kollegialer Bundesrat mit einem Präsidialdepartement [25].
 
[20] Amtl. Bull. NR, 1995, S. 115 ff.; TA und BZ, 27.1.95; TA, 31.1.95. Vgl. SPJ 1994, S. 36 ff. Der NR überwies eine Motion Schmid (gp, TG) für eine Erhöhung der Zahl der BR als Postulat (Amtl. Bull. NR, 1995, S. 2126 f.). Zu der vom LdU geforderten Umwandlung in ein parlamentarisches Regierungssystem siehe auch R. Germann in NZZ, 20.7.95.20
[21] Amtl. Bull. NR, 1995, S. 137 ff.21
[22] Amtl. Bull. NR, 1995, S. 154 ff.22
[23] Amtl. Bull. StR, 1995, S. 353 ff., 876 ff., 986 f. und 1066; Amtl. Bull. NR, 1995, S. 1426 ff., 1924 f., 2075 und 2300; BBl, 1995, IV, 451 ff. Siehe auch den Inspektionsbericht der GPK beider Räte zur "Rolle und Funktion der Generalsekretariate", in BBl, 1995, IV, S. 1136 ff.23
[24] Bund, 7.10. und 22.12.95; BBl, 1996, I, S. 522 f.24
[25] Zu den Reorganisationsplänen siehe Bund, 24.8., 30.11. und 5.12.95; NZZ, 21.9. und 5.12.95; 24 Heures, 8.11.95; Gesch.ber. 1995, S. 43 f. Zur Einsetzung der Expertengruppe siehe SPJ 1990, S. 36 f. Vgl. auch Lit. Eichenberger.25