Année politique Suisse 1995 : Eléments du système politique / Institutions et droits populaires / Volksrechte
Die Bundesversammlung entschied im Berichtsjahr über eine Volksinitiative, bei welcher die von der Verfassung geforderte
Einheit der Materie umstritten war. Der Bundesrat hatte im Vorjahr beantragt, die Volksinitiative der SP "für weniger Militärausgaben und mehr Friedenspolitik" trotz Verletzung der Einheit der Materie für gültig zu erklären. Die Sicherheitspolitische Kommission des
Ständerats war damit nicht einverstanden. Gestützt auf eine Beurteilung der Staatspolitischen Kommission verlangte sie,
die Initiative für ungültig zu erklären, da kein sachlicher Zusammenhang zwischen der Reduktion des Militärbudgets und der von den Initianten geforderten Aufstockung der Ausgaben für die Sozialpolitik bestehe. Die kleine Kammer folgte diesem Antrag. Im
Nationalrat sprachen sich die Fraktionen der SP, der GP sowie SD/Lega und LdU/EVP für Gültigkeit, FDP, SVP, FP sowie eine Mehrheit der CVP für Ungültigkeit aus. Von Seiten der SP wurde argumentiert, dass mit der Ungültigkeitserklärung eine bisher grosszügige Praxis verlassen und Treu und Glauben der Initianten verletzt würde. Ihre Gegner erwiderten, dass - mit Ausnahme der wegen Undurchführbarkeit ungültig erklärten Chevallier-Initiative - noch nie eine derart eklatante Verletzung der Verfassungsvorschriften für Volksinitiativen vorgelegen habe, und deshalb von einer Praxisänderung nicht die Rede sein könne. Die Initiative wurde in der Gesamtabstimmung im Ständerat mit 37:7 und im Nationalrat mit 96:65 Stimmen für ungültig erklärt
[69].
Die vom Bundesrat beantragte Ungültigkeitserklärung für die Volksinitiative der SD "für eine vernünftige Asylpolitik" wegen
Unvereinbarkeit mit zwingendem Völker- und Menschenrecht fand im
Ständerat Zustimmung. Carlo Schmid (cvp, AI) plädierte vergeblich gegen die Ungültigkeitserklärung (und für die Ablehnung) der Initiative. Mit seinem Argument, dass die Verfassung selbst nur formelle, aber keine materiellen Schranken für Verfassungsteilrevisionen nennt, vermochte er nur einen Ratskollegen zu überzeugen. In einer staatsrechtlichen Debatte von hohem Niveau wurde von mehreren Rednern betont, dass in den letzten Jahrzehnten ein Gesinnungswandel in bezug auf materielle Schranken von Verfassungsrevisionen stattgefunden habe. Heute werde zwingendes Völkerrecht ("jus cogens") auch dann als übergeordneter Rechtsbestand von Demokratien anerkannt, wenn es nicht explizit in den Verfassungen erwähnt ist. Bundesrat Koller präzisierte in seinem Votum, dass nur sehr wenige, aber für den Schutz des Lebens zentrale Normen zu diesem zwingenden Völkerrecht gehörten, namentlich das Genozid- und Folterverbot sowie das - von der SD-Initiative in Frage gestellte - "Non-refoulement-Prinzip"
[70]. In dem Ende Juni in die Vernehmlassung gegebenen Entwurf für die Totalrevision der Bundesverfassung ist die Ungültigkeit von Initiativen, die zwingendem Völkerrecht widersprechen, explizit festgehalten
[71].
Nationalrat Keller (sd, BL) verlangte mit einer Motion, dass in Zukunft nicht mehr die Bundesversammlung über die Gültigkeit von Volksinitiativen entscheidet, sondern eine - nicht näher spezifizierte - Stelle eine verbindliche
materiellrechtliche Vorprüfung durchführt. Der Vorstoss wurde in ein Postulat umgewandelt, obwohl ihn Vollmer (sp, BE), der sich für das Recht des Parlaments einsetzte, für diese Überprüfung allein zuständig zu bleiben, auch in dieser Form bekämpfte
[72]. Die Staatspolitische Kommission des Ständerats zeigte an einer solchen Lösung grosses Interesse. Bei der Vorberatung der Teilrevision des Gesetzes über die politischen Rechte (s. oben) beschloss sie, eine rechtliche Vorprüfung von Initiativen durch die Bundeskanzlei einzuführen. Deren Entscheid könnte innerhalb von 60 Tagen bei einer vom Parlament gewählten unabhängigen Rekurskommission angefochten werden, welche dann definitiv entscheiden würde
[73]. Der vom Bundesrat in die Vernehmlassung gegebene Entwurf für die Totalrevision der Verfassung schlägt vor, dass weiterhin die Bundesversammlung über die Gültigkeit entscheidet. Eine Ungültigkeitserklärung aufgrund von Nichtvereinbarkeit mit Völkerrecht müsste allerdings vom Bundesgericht sanktioniert werden
[74].
Der Ständerat hatte im Vorjahr beschlossen, auf die Vorlage des Nationalrats für ein
Verbot von rückwirkenden Bestimmungen in Volksinitiativen nicht einzutreten und den Bundesrat mit einer Motion zu beauftragen, selber diesbezügliche Vorschläge auszuarbeiten. Die vorberatende Kommission des Nationalrats hatte anschliessend mit knapper Mehrheit entschieden, den konkreten Vorschlag ebenfalls fallen zu lassen und auf entsprechende allgemeinere Vorschläge des EJPD im Rahmen der Totalrevision der Bundesverfassung zu warten. Nachdem die drei bürgerlichen Bundesratsparteien aber für eine rasche Lösung votiert hatten, beharrte der Nationalrat mit 84:64 auf seinem ursprünglichen Beschluss. Er überwies zudem auch die Motion des Ständerats. Dieser lehnte dann den Verbotsbeschluss des Nationalrats zum zweitenmal und damit definitiv ab
[75].
[69]
Amtl. Bull. StR, 1995, S. 369 ff.;
Amtl. Bull. NR, 1995, S. 1396 ff.;
BBl, 1995, III, S. 570 f.; Presse vom 23.3. und 21.6.95. Vgl.
SPJ 1994, S. 42. Die SP lancierte kurz danach eine ähnliche Initiative, welche aber auf eine direkte Zuleitung der eingesparten Gelder in die Sozialpolitik verzichtet (siehe dazu unten, Teil I, 3, Armement).6
[70]
Amtl. Bull. StR, 1995, S. 334 ff. (siehe v.a. die Voten von Huber (cvp, AG), Rhinow (fdp, BL) und BR Koller); Presse vom 17.3.95. Vgl.
SPJ 1994, S. 42 f. Zum Verhältnis Rechtsstaat und Demokratie siehe auch die Aufsätze von J.P. Müller und P. Tschannen in
NZZ, 7.6.95.70
[71] Presse vom 27.6.95.71
[72]
Amtl. Bull. NR, 1995, S. 945 und 2124 f.72
[75]
Amtl. Bull. NR, 1995, S. 793 ff. resp. 798 (Motion);
Amtl. Bull. StR, 1995, S. 969 f.; Presse vom 22.3.95. Vgl.
SPJ 1994, S. 43. Der Beschluss des NR ging auf eine parl. Initiative Zwingli (fdp, SG) zurück.75
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