Année politique Suisse 1995 : Politique sociale / Santé, assistance sociale, sport
Suchtmittel
Elf- bis sechzehnjährige Schweizer
Schulkinder konsumieren deutlich mehr Alkohol, Tabak und Haschisch als vor acht Jahren. Dies ging aus einer breit angelegten Studie der Schweizerischen Fachstelle für Alkohol- und andere Drogenprobleme (SFA) hervor. Insgesamt sind es zwei Prozent der Jugendlichen - hochgerechnet rund 12 000 Schulkinder -, die jeden Tag zum Glas greifen. Sieben Prozent der erfassten Jugendlichen rauchen täglich, was gegenüber 1986 einem Anstieg um 75% entspricht. Fast verdoppelt hat sich auch der Prozentsatz jener (18,4% gegenüber 10%), welche mindestens einmal Cannabis konsumiert haben. 7,9% der Befragten hatten Erfahrung mit Aufputschmitteln, mehr als doppelt so viele wie 1986, wobei der Trend bei den männlichen Jugendlichen und in der Deutschschweiz besonders ausgeprägt ist. Die Modedroge Ecstasy wurde von 1,4% der Schülerinnen und Schüler eingenommen
[23].
Abweichend vom Antrag seiner Kommission nahm der Ständerat mit Stichentscheid seines Präsidenten eine Motion des Nationalrates an, welche die
Schaffung eines Suchtpräventionsgesetzes verlangt, das den Umgang sowohl mit den legalen wie mit den illegalen Drogen umfassend angeht. Die Gegner des Vorstosses argumentierten, die Überweisung in der bindenden Form würde dem Bundesrat bei der laufenden Definition seiner Drogenpolitik Fesseln anlegen und eine Weiterentwicklung dieser Politik behindern
[24].
Bei der Revision des Arbeitsgesetzes (siehe oben, Teil I, 7a, Arbeitszeit) beantragte Nationalrätin Brunner (sp, GE) eine zusätzliche Bestimmung, wonach die Arbeitgeber dafür zu sorgen haben, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit keinen Alkohol oder andere berauschende Mittel konsumieren müssen. Sie visierte damit vor allem Animierdamen und Tänzerinnen in
Nachtlokalen an. Da der Bundesrat diesem Antrag sehr positiv gegenüberstand, wurde er praktisch diskussionslos aufgenommen
[25].
Der Bundesrat beschloss, bis 1999 sein Engagement im Bereich der
Nikotinprävention mit jährlich 2,5 Mio Fr. zu vervierfachen. Wie Bundesrätin Dreifuss ausführte, will sich der Bund vermehrt für eine kohärente Nichtraucher-Politik einsetzen, da die Schweiz in diesem Bereich im Vergleich zu den Nachbarländern im Rückstand sei. Das Programm des Bundesrates verfolgt drei Ziele: die Zahl neueinsteigender junger Raucherinnen und Raucher soll reduziert, der Schutz gegen Passivrauchen verstärkt und die Hilfe für Ausstiegswillige ausgebaut werden
[26].
Mit einer Motion wollte Nationalrat Bischof (sd, ZH) den Bundesrat beauftragen, ein Datenerfassungssystem einzurichten, damit präzise diagnostische Kriterien für die Ermittlung einer
Medikamentenabhängigkeit erarbeitet werden können. Da der Bundesrat ausführte, das BAG habe bereits die Absicht, eine entsprechende Studie in Auftrag zu geben, wurde auf seinen Antrag der Vorstoss lediglich als Postulat überwiesen
[27].
Zum zweitenmal nach 1991 lud das EDI Behördenmitglieder und Interessengruppen aller drei staatlicher Ebenen zu einer
nationalen Drogenkonferenz nach Bern ein. Die Bundesräte Koller und Dreifuss riefen dazu auf, die drogenpolitische Debatte zu deblockieren. Polarisierte Meinungen prallten kaum aufeinander. CVP, FDP und SP bekräftigten schon vor der Tagung ihre Absicht, eine Teilrevision des Betäubungsmittelgesetzes anzustreben, um möglichst rasch die gesetzliche Grundlage für die ärztlichen Substitutionsprogramme mit Heroin zu schaffen. Derart konkrete Fragen behandelte die Konferenz allerdings nur am Rande. Generell herrschte Einigkeit darüber, dass in der Drogenpolitik differenziert und behutsam vorgegangen werden muss, wobei Kohärenz, Koordination und Kommunikation zwischen allen Beteiligten zu fördern und auszubauen seien
[28].
Entgegen seiner Ende 1994 geäusserten Absicht will der Bundesrat
den beiden drogenpolitischen Volksinitiativen keinen direkten Gegenvorschlag entgegensetzen. Diesen Rückzug begründete er mit der Feststellung, seine Vier-Säulen-Strategie (Prävention, Überlebenshilfe, Therapie und Repression) habe in der Vernehmlassung generell einen starken Rückhalt gefunden. Bei der Umsetzung gingen die Meinungen allerdings weit auseinander, weshalb es nicht ratsam wäre, den breiten Konsens wegen einer Formulierungsfrage aufs Spiel zu setzen. Die Landesregierung suche in erster Linie
den pragmatischen Weg. Für die Ende 1994 initiierte Revision des Betäubungsmittelgesetzes sei die verfassungsmässige Grundlage bereits gegeben. FDP und SP begrüssten den Entscheid des Bundesrates. CVP und SVP kündigten hingegen an, sie würden sich im Parlament für die Erarbeitung eines Gegenvorschlages einsetzen, der die wesentlichen Elemente des ursprünglichen bundesrätlichen Vorschlags wieder aufnehmen soll
[29].
Diskussionslos und mit deutlicher Mehrheit verwarf der Nationalrat eine an die Volksinitiative "Jugend ohne Drogen" angelehnte parlamentarische Initiative Bischof (sd, ZH), welche das Rauschgiftproblem mit einer restriktiven und direkt auf Abstinenz ausgerichteten Politik bekämpfen wollte. Das Plenum folgte dabei den Ausführungen der Kommission, welche repressive Methoden als untaugliches Mittel zur Bekämpfung der Drogensucht bezeichnete und den Bundesrat in seiner Politik der aufbauenden Überlebenshilfe unterstützte
[30].
Mit einer Motion verlangte Ständerat Morniroli (lega, TI) vom Bundesrat die Ausarbeitung eines Drogenkonzepts. Der Bundesrat verwies auf die bereits in Angriff genommenen Arbeiten und empfahl der Kammer die Umwandlung in ein Postulat. Unterstützt von Ständerat Danioth (cvp, UR) beantragte der Motionär, zumindest zwei Punkte seines Vorstosses in der verbindlichen Form anzunehmen, nämlich die Auflistung von differenzierten Massnahmen, die der Gefährlichkeit der einzelnen Drogen Rechnung tragen, sowie eine Verbesserung der Ausgangsbedingungen für die Therapie von Drogensüchtigen durch deren Einweisung in Spezialkliniken. Der Rat folgte der Argumentation von Bundesrätin Dreifuss, welche im letzteren Punkt die Gefahr von Zwangstherapien sah, und verwarf diesen. Der Hinweis von Danioth, dass mit einer Differenzierung auch erfolgreicher gegen
neue Modedrogen wie etwa Ecstasy angegangen werden könnte, verfehlte seine Wirkung hingegen nicht, weshalb dieser Punkt als Motion überwiesen wurde
[31].
Die Stimmberechtigten des Kantons
Zug lehnten eine von der SVP lancierte Initiative "für eine abstinenzorientierte Drogenpolitik" mit rund zwei Dritteln der Stimmen ab. Das Begehren wurde in allen elf Zuger Gemeinden verworfen. Eine Annahme der Initiative hätte eine Kehrtwende für die Zuger Drogenpolitik bedeutet und sie zur wohl restriktivsten der Schweiz gemacht. Ziel des Volksbegehrens war, die Heroinabgabe zu verunmöglichen und die Methadondispensation auf Notfälle zu beschränken. Auch hätten keine Spritzen zur Aids-Bekämpfung mehr abgegeben werden dürfen. Regierung und Kantonsparlament hatten sich deutlich gegen die Initiative ausgesprochen. Ausser der SVP und einem Bürgerkomitee unter Vorsitz von alt Ständerat Kündig (cvp) empfahlen im Abstimmungskampf alle Parteien und Gruppierungen die Ablehnung des Volksbegehrens
[32].
Gestützt auf die Empfehlungen der Praktiker beschloss der Bundesrat Ende Januar, die
Versuchsprogramme mit der medizinisch kontrollierten Drogenabgabe deutlich umzugewichten. Wegen der relativ schlechten Akzeptanz der intravenösen Verabreichung von Morphin und Methadon wurden diese Versuchsplätze von je 225 auf 100 reduziert, die Zahl der Patientinnen und Patienten, die Heroin erhalten, dagegen gesamtschweizerisch auf 500 erhöht. Die weitgehende
Konzentration auf Heroinprogramme war im Vorjahr vom Bundesrat bereits angekündigt und von der Überregionalen Ethikkommission der Akademie der Medizinischen Wissenschaften bejaht worden. Obgleich das International Narcotic Control Board der UNO (INCB) die Versuche mit der kontrollierten Abgabe weiterhin argwöhnisch beobachtete, stimmte es doch indirekt der Umwandlung der Projektanlage zu und gestattete der Schweiz eine Erhöhung der jährlichen Importmenge an Heroin von 117 auf 200 Kilo. Sowohl auf Druck von Kantonen und Gemeinden als auch aus wissenschaftlichen Gründen (breiteres Datenmaterial)
erhöhte der Bundesrat im Mai die
Anzahl der Heroinplätze um weitere 300
auf 800. Neu bewilligt wurden insbesondere Programme im Grossraum Zürich und in den Städten Biel, Genf, Luzern, St. Gallen und Solothurn sowie in einer Strafanstalt im Kanton Solothurn (siehe unten). Da das Gesamtprojekt Ende 1996 abgeschlossen sein muss, erklärte der Bundesrat gleichzeitig, dass es sich dabei um die letzte Ausdehnung der Heroinplätze im Rahmen dieser Versuchsreihe handelt. Die von der UNO anfangs März bewilligten Heroinimporte genügen für die Belieferung der zusätzlichen Therapieplätze, weshalb die Bundesbehörden für diesen Schritt nicht der Zustimmung des INCB bedurften
[33].
Diese Ausweitung der Drogenversuche - und, wie Beobachter argwöhnten, wohl auch die anstehenden eidgenössischen Wahlen - brachten den
Konsens der drei grossen Bundesratsparteien im Bereich der Drogenpolitik, welcher durch das im letzten Jahr veröffentlichte gemeinsame Grundsatzpapier politisch abgesichert schien, im Laufe des Sommers wieder
ins Wanken. Im Nationalrat wurde bei der Behandlung des Nachtrags I zum Voranschlag 1995 mit mehreren Anträgen aus FDP- und CVP-Kreisen versucht, einen Zusatzkredit von 7,5 Mio Fr. zu Fall zu bringen, welchen der Bundesrat für die Ausweitung der Versuche beantragt hatte. Der Kredit passierte nur relativ knapp mit 77:64 Stimmen. In der kleinen Kammer war zuvor ein analoger Antrag Morniroli (lega, TI) mit 17:15 Stimmen ebenfalls nur knapp abgelehnt worden
[34]. Ständerat und CVP-Parteipräsident Cottier (FR) ritt kurz darauf in einer dringlichen Interpellation eine scharfe Attacke gegen die zusätzlichen Heroinplätze. Er bemühte sich dabei, seine Partei nur als sehr zurückhaltende Befürworterin dieser Versuche zu präsentieren und unterstellte all jenen, welche die Ausweitung ermöglicht hatten oder diese unterstützten, mittelfristig die völlige Drogenfreigabe anzupeilen. Die von Cottier offensichtlich gewünschte grosse Drogendebatte kam aber nicht zustande. Auf Antrag Schiesser (fdp, GL) wurde die Diskussion verschoben und fand erst in der ersten Session der neuen Legislatur - und in entspannterer Atmosphäre - statt
[35].
Rund 100 führende
Wirtschaftsvertreter sprachen sich im Herbst in einem gemeinsam veröffentlichten Grundsatzpapier für eine ausgeweitete kontrollierte Drogenabgabe an Süchtige, die Eliminierung sämtlicher offener Drogenszenen, eine Entkriminalisierung des Drogenkonsums sowie für verstärkte Präventionsmassnahmen im Bereich der Jugend- und Familienpolitik aus. Sie begründeten ihr Engagement mit menschlicher Betroffenheit, aber auch mit der Ineffizienz der heute noch stark auf Repression ausgerichteten Drogenpolitik, welche den Steuerzahler - und damit auch die Wirtschaft - stark belastet, sowie mit Image-Problemen des Wirtschaftsstandortes Schweiz
[36].
Das BAG und die Wissenschafter, welche die
Versuche mit der kontrollierten Drogenabgabe im Auftrag des Bundes begleiten und evaluieren, zogen Ende Jahr eine
mehrheitlich positive Zwischenbilanz. Nach ihren Erkenntnissen verbessert die ärztliche Verschreibung von Betäubungsmitteln die
gesundheitliche und psychosoziale Situation schwerstabhängiger Patientinnen und Patienten erheblich. 82% der Probanden blieben mindestens sechs Monate in Behandlung, was gegenüber den traditionellen Therapieformen (Entzug oder Methadon) eine sehr hohe "Haltequote" bedeutet. Als akzeptierteste Therapieform erwies sich dabei die Abgabe von oralem Methadon mit einer täglichen Heroininjektion. Auch die Lebensumstände der Betroffenen verbesserten sich wesentlich. Während des ersten halben Jahres ihrer Teilnahme an den Versuchen stabilisierte sich bei 89% die Wohnsituation; die Obdachlosigkeit ging von 15% auf 3% zurück. Statt 18% gingen nach sechs Monaten 46% der Versuchsteilnehmer einer einigermassen geregelten Erwerbstätigkeit nach. Die Kriminalität ging rapide zurück, und der Gesundheitszustand machte markante Fortschritte. Nach Meinung der Experten wäre deshalb eine dauerhafte Abgabe von Heroin durchaus geeignet, jene stark marginalisierte Gruppe von langjährigen Heroinabhängigen zu erreichen, die in allen anderen Behandlungsformen gescheitert sind. Problematisch wurde allerdings von allen Beteiligten der Ausschluss von Kokain aus dem Therapieangebot erachtet, da dieses von den Süchtigen häufig in Ergänzung zu Heroin konsumiert wird
[37].
Als erster welscher Kanton will sich auch
Genf an den Versuchen mit der medizinisch kontrollierten Heroinabgabe beteiligen. Der Genfer Grosser Rat nahm eine entsprechende - von allen Parteien mit Ausnahme der LP unterstützte - Motion ohne grosse Diskussionen an. Der Staatsrat stimmte ebenfalls zu, worauf Genf in die Liste der Teilnehmer an den ausgeweiteten Heroinprogrammen aufgenommen wurde. Aber auch in den anderen Westschweizer Kantonen weichten sich die starren Fronten - zumindest was die Methadon- und Spritzenabgabe anbelangt - allmählich auf
[38].
Die Kantone Basel-Stadt und Solothurn beantragten beim BAG, versuchsweise in ausgewählten
Strafanstalten Heroin an Häftlinge abgeben zu dürfen. Das BAG erteilte dem weltweit einmaligen Projekt grünes Licht, und auch Bundesrätin Dreifuss stellte sich ausdrücklich hinter das brisante Vorhaben. Ab Mitte Jahr wurden daraufhin in der solothurnischen Strafanstalt Oberschöngrün Heroinprogrammplätze geschaffen, wobei die Bedingungen zur Teilnahme gleich definiert wurden wie in den Drogenversuchen des Bundes. Auch dieses Projekt wird wissenschaftlich begleitet und ausgewertet
[39].
Nach einer ersten konsequenten "Ausdünnung" der
offenen Drogenszene am Zürcher Letten wurde das Areal Mitte Februar polizeilich geräumt. Die aufgegriffenen Drogensüchtigen wurden an ihre Wohngemeinden oder -kantone überstellt. Anfänglich dominierte der Eindruck, dass diese Auflösung besser koordiniert und deshalb erfolgreicher sei als jene des Platzsspitzes 1993. Nach einigen Monaten zeigte sich jedoch, dass wieder eine Verlagerung zu schwer kontrollierbaren "Kleinszenen" in den angrenzenden Stadtkreisen erfolgt war
[40].
Um dem Wildwuchs im Drogenentzugsbereich Einhalt zu gebieten, schufen der Bund und die kantonale Fürsorgedirektorenkonferenz eine
zentrale Koordinationsstelle, welche sämtliche überkantonalen Aufgaben im Zusammenhang mit
stationären Therapieangeboten im Drogenbereich bearbeitet
[41]. Nach dem Nationalrat nahm auch der Ständerat oppositionslos eine Motion Sieber (evp, ZH) an, welche den Bundesrat beauftragt, geeignete Schritte zu unternehmen, um in Zusammenarbeit mit den Kantonen den Aufbau eines "Selbsthilfedorfes" für ausstiegswillige Süchtige zu fördern
[42].
Die grosse Kammer folgte der kleinen und stimmte der Ratifizierung von zwei UNO-Konventionen zum Umgang mit illegalen Drogen (Übereinkommen von 1971 über die psychotropen Substanzen und Zusatzprotokoll von 1972 zum Einheitsübereinkommen von 1961) zu, allerdings erst nach einer längeren Grundsatzdebatte. Eine Kommissionsminderheit um den Zürcher CVP-Abgeordneten Seiler plädierte für Nichteintreten, da nur etwa 20 Staaten - und nicht die wichtigsten - die Abkommen auch in die nationale Gesetzgebung überführt hätten, weshalb die Schweiz auch bei einer Nichtratifizierung kein Aussenseiter wäre. Streng genommen würde die Anwendung der Konventionen dazu führen, neu auch den nicht ärztlich verordneten Konsum von Schlaf- und Beruhigungsmitteln zu kriminalisieren. Eine Minderheit Rechsteiner (sp, SG) beantragte Rückweisung an den Bundesrat, damit noch genauer abgeklärt werden könne, ob die Konventionen nicht doch den drogenpolitischen Handlungsspielraum der Schweiz entscheidend einengen würden. Als Vertreter einer auf Abstinenz ausgerichteten Drogenpolitik wollte SD-Vertreter Keller (BL) die Vorlage ebenfalls an die Regierung zurückweisen, allerdings verbunden mit dem Auftrag, auch das ungleich repressivere Wiener Übereinkommen von 1988 den Räten umgehend zur Ratifikation zu unterbreiten.
Bundesrätin Dreifuss betonte, mit den Übereinkommen werde eine eigenständige Drogenpolitik der Schweiz nicht beeinträchtigt. Es gehe allein darum, internationale Solidarität zu üben. Von einer Kriminalisierung des Medikamentenkonsums könne keine Rede sein, da sich die Konventionen lediglich gegen den Schwarzmarkt richten. Der Nichteintretensantrag und die beiden Rückweisungsanträge wurden daraufhin deutlich verworfen. In der Gesamtabstimmung passierte das Übereinkommen über psychotrope Substanzen mit 108:42 Stimmen und das Zusatzprotokoll mit 107:42 Stimmen.
Bei den durch die Überführung der Abkommen in nationales Recht notwendig werdenden
Anpassungen des Betäubungsmittelgesetzes (BetmG) beantragten mehrere Abgeordnete, Art. 8 BetmG, welcher Heroin und Cannabis als total verbotene Stoffe aufführt, die nicht einmal vom Arzt verordnet werden dürfen, ersatzlos zu streichen oder zumindest derart abzuschwächen, dass die Versuche mit der medizinisch indizierten Abgabe von Heroin erlaubt werden. Bundesrätin Dreifuss wies darauf hin, dass bereits eine Expertengruppe am Werk ist, um notfalls dringende Änderungen des BetmG vorzulegen, weshalb eine Gesetzgebung im Schnellzugsverfahren nicht angezeigt sei. Die Antragsteller beugten sich dieser Argumentation und zogen ihre Vorstösse zurück. Keinen Erfolg hatte auch ein weiterer Antrag Rechsteiner, zumindest jetzt schon auf die Bestrafung des Konsums zu verzichten. In der Gesamtabstimmung wurde das geänderte BetmG mit 108 gegen 22 Stimmen deutlich angenommen
[43].
Ende Jahr veröffentlichte der Bundesrat auch seine
Botschaft zum wesentlich umstritteneren
Wiener Übereinkommen von 1988. Diese Konvention verpflichtet die Mitgliedstaaten, den unerlaubten Verkehr mit Betäubungsmitteln und psychotropen Stoffen zu bekämpfen. Die wichtigsten Ziele sind dabei die Ahndung der Geldwäscherei, die Kontrolle des Handels mit Chemikalien zur Drogenherstellung (sog. Vorläufersubstanzen) sowie die Optimierung der internationalen polizeilichen Zusammenarbeit im Bereich der Drogenkriminalität. Da das Übereinkommen aber auch eine generelle Pflicht zur Bestrafung der Vorbereitungshandlungen, wie Anbau, Erwerb und Besitz von Betäubungsmitteln zum Eigenkonsum vorsieht, möchte der Bundesrat der Konvention nur mit einem entsprechenden Vorbehalt beitreten, um so den heutigen innerstaatlichen Handlungsspielraum bei der Gestaltung der Drogenpolitik zu bewahren. Damit keine Präjudizien für die Abstimmungen über die beiden hängigen Volksinitiativen geschaffen werden, beabsichtigt der Bundesrat, das 88er Abkommen erst nach diesen Urnengängen ratifizieren zu lassen
[44].
[23] Presse vom 24.5.95. Eine Studie im Kanton Zürich zeigte, dass Jugendliche trotz gesetzlichem Jugendschutz relativ leicht alkoholische Getränke konsumieren können. 68% der befragten Gastgewerbebetriebe und 90% der Verkaufsstellen gaben an, Jugendlichen alkoholische Getränke abzugeben (
NZZ, 13.7.95).23
[24]
Amtl. Bull. StR, 1995, S. 302 ff.24
[25]
Amtl. Bull. NR, 1995, S. 834 ff.25
[26] Presse vom 17.8.95. Siehe
SPJ 1993, S. 211 f. Für die Haltung des BR zum Versicherungsmodell einer Krankenkasse, welche Nichtrauchern in der Zusatzversicherung Prämienermässigungen von über 20% anbietet, siehe
Amtl. Bull. NR, 1995, S. 740.26
[27]
Amtl. Bull. NR, 1995, S. 2183.27
[28]
Documenta, 1995, Nr. 1, S. 22 ff. (Votum von BR Koller);
NZZ, 17.1. und 18.1.95; Presse vom 20.2.95. Während sich die SVP Schweiz von den Bestrebungen der anderen BR-Parteien zur gesetzlichen Verankerung der kontrollierten Drogenabgabe distanzierte, befürwortete die SVP des Kantons Bern die laufenden Heroinabgabeversuche und die Einrichtung von Drogenanlaufstellen mit Fixerräumen (Presse vom 10.3.95).28
[29]
BBl, 1995, III, S. 1245 ff.; Presse vom 30.3.95. Vgl.
SPJ 1994, S. 210. In der Vernehmlassung hatte sich einzig die CVP für einen Gegenvorschlag ausgesprochen (Presse vom 1.2.95;
NZZ, 2.2. und 9.8.95). Für den "Fahrplan" der Behandlung der beiden Initiativen siehe die Ausführungen des BR in
Amtl. Bull. NR, 1995, S. 2218 f.29
[30]
Amtl. Bull. NR, 1995, S. 1564 f.30
[31]
Amtl. Bull. StR, S. 305 ff. Zur Einschätzung der Gefahr und Verbreitung von Ecstasy siehe auch
Amtl. Bull. NR, 1995, S. 2748 f. In seiner Antwort auf eine Einfache Frage Sandoz (lp, VD) bestätigte der BR, dass von 1988 bis 1993 Ecstasy mit Bewilligung des Bundes zur Behandlung psychisch kranker Menschen eingesetzt worden ist. Das BAG habe von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, für verbotene Substanzen Ausnahmebewilligungen zu erteilen (
Amtl. Bull. NR, 1995, 2745 f.).31
[32]
Ww, 7.9.95; Presse vom 11.9.95.32
[33] Presse vom 31.1., 13.2., 28.2., 3.3., 26.5. und 27.6.95;
TA, 14.2.95;
BaZ, 15.2.95;
Bund, 13.5.95;
24 Heures, 1.7.95. Siehe
SPJ 1994, S. 209 f. Der Bieler Versuch wurde mit einer besonderen Auflage verbunden. Um zu prüfen, was beim Auslaufen der Versuche Ende 1996 mit den übrigen Probandinnen und Probanden getan werden kann, soll in Biel die Heroinabgabe bereits Mitte 1996 beendet werden (Presse vom 21.9.95). Das BAG war einem Wunsch des INCB bereits zuvorgekommen und hatte 1994 mit der Weltgesundheitsorganisation WHO vereinbart, dass diese die wissenschaftliche Evaluation der schweizerischen Versuche begutachten wird (
NZZ, 17.2.95).33
[34]
Amtl. Bull. NR, 1995, S. 1470 ff.;
Amtl. Bull. StR, 1995, S. 523 ff.34
[35]
Amtl. Bull. StR, 1995, S. 763 ff. und 1168 ff.; Presse vom 23.6.95.35
[36] Presse vom 10.11.95.36
[37]
Lit. BAG; Presse vom 13.11. und 24.11.95;
BAG-Bulletin, Nr. 50, 25.12.95. Zu den laufenden Heroinversuchen siehe auch die Stellungnahme des BR in
Amtl. Bull. NR, 1995, S. 2744 f., 2747, 2749 ff. und 2754 f.37
[38]
NQ, 21.4., 4.5. und 28.9.95; Presse vom 6.5.95;
24 Heures, 1.7.95.38
[39]
NZZ, 4.1.95;
SoZ, 14.5.95;
LNN, 20.5.95;
NQ, 12.6.95;
SGT, 3.8.95. Siehe dazu auch die Ausführungen des BR in
Amtl. Bull. NR, 1995, S. 2211 f.39
[40]
TA, 19.1., 24.1., 31.1., 6.2., 2.3., 16.3., 11.4., 26.5., 27.7., 9.8., 18.8. und 13.10.95;
NZZ, 3.2., 4.2., 8.2., 16.2., 20.2., 4.5. und 1.7.95;
WoZ, 20.1.95; Presse vom 8.2., 14.2., 15.2. und 20.9.95. Vgl.
SPJ 1994, S. 212. Geschlossen wurden Ende Januar auch die offenen Szenen in Solothurn und Olten (
TA, 27.1.95). Einzelne Kantone (insbesondere Genf) machten rechtsstaatliche Bedenken gegenüber den polizeilich durchgeführten Rückschaffungen der auswärtigen Drogenkonsumenten in ihre Wohngemeinden oder -kantone geltend, worauf dem freiwilligen und zivilen Charakter der Rückführungen mehr Rechnung getragen wurde (
JdG, 17.2. und 18.2.95;
TA, 18.2. und 2.3.95;
LNN, 20.2.95;
NZZ, 1.3.95).40
[42]
Amtl. Bull. StR, 1995, S. 9 ff. Siehe
SPJ 1994, S. 211 f.42
[43]
Amtl. Bull. NR, 1995, S. 769 ff. und 1007 f.;
Amtl. Bull. StR, 1995, S. 438 (Schlussabstimmung). Vgl.
SPJ 1994, S. 210. Die FDP hatte in der Vernehmlassung die Ratifikation des Psychotropen-Abkommens noch abgelehnt (
TA, 22.3.95;
WoZ, 31.3.95).43
[44]
BBl, 1996, I, S. 609 ff.; Presse vom 30.11. und 29.12.95. Siehe
SPJ 1994, S. 210.44
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