Année politique Suisse 1995 : Politique sociale / Assurances sociales / Grundsatzfragen
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Finanzierungsfragen
Die Sozialwerke AHV/IV und EO rutschten erstmals seit 16 Jahren in die roten Zahlen. Die Gesamteinnahmen beliefen sich auf rund 31 855 Mio Fr. (+2,9% gegenüber dem Vorjahr), die Ausgaben auf ca. 31 950 Mio Fr. (+4,5%), was zu einem Defizit von 95 Mio Fr. führte. Der Ausgleichsfonds der AHV nannte als Grund für das Ungleichgewicht, das allein von der IV verursacht wurde, vorab die schwache Wirtschaftslage.
Die Erträge der AHV nahmen um 2,4% auf 24,5 Mia Fr. zu, wobei sich die Beiträge von Versicherten und Arbeitgebern um 1,8% bzw. 340 Mio Fr. erhöhten. In der IV stiegen die Einnahmen wegen höherer Beitragssätze um 12,3% auf 6,4 Mia Fr. Da im Gegenzug der Beitragssatz für die EO gesenkt wurde, führte dies dort zu Mindereinnahmen um 32% auf 860 Mio Fr. Die Bundesbeiträge an die AHV und IV sanken auch 1995 linear um fünf Prozent. Laut Ausgleichsfonds hatte dies bei der AHV 215 Mio Fr. und bei der IV 130 Mio Fr. Mindereinnahmen zur Folge. Die Zinseinnahmen stiegen auf 1,2 Mia Fr. Die Ausgaben der AHV nahmen wegen des höheren Rentnerbestandes und der Rentenanpassung um 4,9% auf 24,5 Mia Fr. zu. In der IV erhöhten sich die Ausgaben aus den gleichen Gründen um 6,7% auf 6,8 Mia Fr. Die EO-Ausgaben konnten dank den reduzierten Diensttagen auf 621 Mio Fr. gesenkt werden. Ende Jahr betrug das Vermögen der drei Sozialwerke rund 27 Mia Fr. Das Kapitalkonto der AHV wuchs lediglich noch um 9 Mio Fr. auf 23 836 Mio Fr. Dies entspricht 97,3% der laufenden Jahresausgabe. Laut AHV-Gesetz darf das AHV-Vermögen in der Regel nicht unter 100% einer Jahresausgabe sinken.
Diese Zahlen, die sich bereits in der zweiten Hälfte des Berichtsjahres abzeichneten, gaben jenen Stimmen vor allem aus Arbeitgeberkreisen Auftrieb, die schon seit einiger Zeit Bundesrätin Dreifuss angriffen und ihr unterstellten, sie beschönige die finanziellen Perspektiven der Sozialwerke. Vorab ihre bei der Präsentation des Drei-Säulen-Berichts (s. unten) gemachte und später in einer Fernsehsendung wiederholte Äusserung, für die Sicherung der AHV brauche es ab dem Jahr 2005 neben dem bereits vorgesehenen Mehrwertsteuerprozent noch einmal Mehreinnahmen im Umfang von einem bis zwei Mehrwertsteuerprozenten bzw. von 1,3 Lohnprozenten, warf im bürgerlichen Lager hohe Wellen, da die Sozialministerin noch 1994 in ihrem "offenen Brief" erklärt hatte, bis mindestens ins Jahr 2000 würde der AHV-Fonds weiter geäufnet, weshalb mittelfristig kein Anlass zur Sorge bestehe. Bei den Erneuerungswahlen in den Bundesrat erzielte Dreifuss das schlechteste Ergebnis des Siebnerkollegiums, was sowohl Beobachter wie sie selber als Ausdruck einer wachsenden Polarisierung in der Sozialpolitik werteten [11].
Der Bundesrat nahm im Oktober den Drei-Säulen-Bericht des EDI zur Kenntnis. Der Bericht zeigt die Möglichkeiten der zukünftigen Entwicklung im Bereich der Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge (AHI) auf. Angesichts der bereits eingetroffenen und noch zu erwartenden sozio-ökonomischen Veränderungen kommt er zum Schluss, dass an der bestehenden Drei-Säulen-Konzeption grundsätzlich festzuhalten sei und keine grösseren Gewichtsverschiebungen zwischen den einzelnen Säulen vorgenommen werden sollten. Gleichzeitig wurden jedoch einzelne Anpassungen zur Optimierung des AHI-Systems vorgeschlagen. Der Bericht behandelte die finanziellen Auswirkungen der skizzierten Lösungen nicht im Detail. Dies soll die vom Bundesrat im Vorjahr eingesetzte interdepartementale Arbeitsgruppe (IDA FiSo) tun, welche im Mai ihre Arbeit aufnahm. Politisch brisantester Punkt des Berichts war die Feststellung, dass die erste Säule (AHV/IV) nach wie vor nicht existenzsichernd ist, wie es die Verfassung verlangt, weshalb eine Neufassung des Verfassungsziels im Sinn einer "Zielhierarchie" vorgeschlagen wurde, bei der die Existenzsicherung zur Aufgabe aller drei Säulen sowie nötigenfalls der Ergänzungsleistungen wird. Diese sollen definitiv in der Verfassung verankert werden [12].
 
[11] NZZ, 2.9. und 18.12.95; Blick, 21.10., 27.10., 27.11. und 4.12.95; Presse vom 28.10., 7.12. und 14.12.95; Hebdo, 2.11. und 9.11.95; Bund, 8.11.95; SoZ, 26.11. und 3.12.95; TA, 4.12. und 9.12.95. Vgl. SPJ 1994, S. 217. Zu den finanziellen Perspektiven der AHV siehe auch unten, 11. AHV-Revision.11
[12] Lit. Drei-Säulen-Bericht; CHSS, 1995, S. 305; Presse vom 28.10.95. Ein Postulat Bortoluzzi (svp, ZH), mittelfristig nach neuen Finanzierungsmodellen für die Sozialversicherung zu suchen und beispielsweise die Einführung einer Energiesteuer anstelle der Lohnprozente zu prüfen, wurde im Rat bekämpft und die Diskussion deshalb verschoben (Amtl. Bull. NR, 1995, S. 2703 f.).12