Année politique Suisse 1995 : Politique sociale / Assurances sociales
 
Mutterschaftsversicherung
Die Vernehmlassung zu den Vorschlägen für eine Mutterschaftsversicherung ergab relativ kontroverse Ergebnisse. Von den insgesamt 122 Stellungnahmen sprachen sich 95 für die Errichtung einer Mutterschaftsversicherung und lediglich 18 dagegen aus, worunter aber starke Wirtschaftsverbände. 12 Kantone unterstützen den Vernehmlassungsentwurf, sieben votierten dagegen und weitere sieben brachten Vorbehalte an. Bei den politischen Parteien waren vier (SP, Grüne, LdU, EVP) für den ersten Vorschlag des Bundesrates, die anderen drei Bundesratsparteien lehnten ihn als zu weitgehend ab. 25 der eingegangenen Stellungnahmen verlangten eine Ausdehnung der Versicherungsleistungen auch auf nicht erwerbstätige Mütter. Die Direktiven des Bundesrates an das bei der Weiterbearbeitung der Vorlage federführende EDI trugen den Einwänden zum Teil Rechnung, indem das Departement Dreifuss beauftragt wurde, noch einmal die Möglichkeit zu prüfen, Leistungen nicht nur an erwerbstätige, sondern auch an nichterwerbstätige Mütter auszurichten resp. Familien in wirtschaftlich bescheidenen Verhältnissen gezielt zu unterstützen [42].
Dass die Mutterschaftsversicherung angesichts der wenig kompromissbereiten Haltung aller Beteiligten zur Totgeburt verkommen könnte, motivierte Frauen aus den bürgerlichen Bundesratsparteien, ein eigenes Modell auszuarbeiten. Demnach würden alle Mütter während vier Monaten eine Grundleistung von 1500 bis 2000 Fr. pro Monat erhalten, es sei denn, das steuerbare Haushaltseinkommen übersteige den für die Leistungen der Unfallversicherung massgebenden Maximalbetrag von 97 200 Fr. Den erwerbstätigen Frauen sollte der Arbeitgeber während des 16wöchigen Mutterschaftsurlaubs 80% des bisherigen Lohnes ausrichten, mindestens aber den Betrag der Grundleistung. Diese würde - analog der Militärversicherung - aus der Bundeskasse finanziert, wobei aber auch denkbar wäre, die Einnahmen aus den Spielkasinos dafür zu verwenden. Die Lohnfortzahlung über die Grundleistung hinaus sollte hingegen Sache der Arbeitgeber bleiben. Diese Lösung, so argumentierten die Frauen der drei bürgerlichen Parteien, würde den Mangel beseitigen, dass Hausfrauen nicht berücksichtigt werden, käme die Arbeitgeber aber kaum teurer zu stehen als die heutige Lösung. Die SP-Frauen wurden in diese erste Diskussionsrunde nicht einbezogen. Obgleich sie sich neuen Modellen gegenüber nicht verschliessen wollten, kritisierten sie doch den ihrer Meinung nach zu geringen Lohnersatz von 80%, da die meisten Gesamtarbeitsverträge bereits heute 100% vorsehen, allerdings bei unterschiedlicher Dauer. Da dieses Modell Firmen mit hohem Männerbestand bevorteilen würde, befürchteten sie zudem negative Auswirkungen für die Frauen auf dem Arbeitsmarkt [43].
Nach einem Treffen von Frauen der vier Bundesratsparteien mit Bundesrätin Ruth Dreifuss schloss sich namentlich die neue Genfer SP-Ständerätin und Gewerkschaftsvertreterin Christiane Brunner ihren bürgerlichen Kolleginnen an. Gemeinsam konzipierten sie ein weiteres, ihrer Meinung nach noch konsensfähigeres Modell für eine Mutterschaftsversicherung für alle Frauen. Um den Widerstand der Arbeitgeber zu überwinden, schlugen sie vor, von der Finanzierung über Lohnprozente abzusehen und stattdessen die Mehrwertsteuer um geschätzte 0,4% zu erhöhen. Mit diesem Vorgehen würde die Wirtschaft, welche jährlich rund 330 Mio Fr. für den freiwillig gewährten oder gesamtarbeitsvertraglich geregelten Mutterschaftsurlaub ausgibt, gewaltig entlastet. Das neue Modell sieht eine Erwerbsausfallentschädigung von 100% während 16 Wochen für alle Frauen vor, die neun Monate vor der Geburt erwerbstätig waren, auch wenn das Arbeitsverhältnis während der Schwangerschaft von der Arbeitnehmerin gekündigt wurde. Ebenfalls anspruchsberechtigt sollten Frauen sein, die gegen Lohn im Betrieb des Mannes mitarbeiten, beispielsweise die Bäuerinnen und die Frauen von Gewerbetreibenden. Nichterwerbstätigen Frauen möchten die Parteienvertreterinnen während vier Monaten die Minimalrente der AHV ausrichten. Um sich nicht dem Vorwurf des Gieskannenprinzips auszusetzen, regten sie an, den Plafond beim maximalen rentenbildenden AHV-Einkommen (gegenwärtig knapp 70 000 Fr.) anzusetzen und nicht, wie dies der Vorschlag des EDI vorsah, beim dem für die obligatorische Unfallversicherung massgebenden Höchstbetrag von 97 200 Fr. [44].
Kurz darauf empfing Bundesrätin Dreifuss - wenige Tage vor dem 50. Jahrestag der Volksabstimmung, welche die Einführung einer Mutterschaftsversicherung in der Bundesverfassung verankerte - rund 100 Vertreterinnen von Parteien, Verbänden und Organisationen, um über das Vorhaben Bilanz zu ziehen. Dabei verteidigte sie ihr Modell der Finanzierung über Lohnprozente, welches die Arbeitgeber nur leicht belasten würde. Eine Finanzierung über eine Erhöhung der Mehrwertsteuer erachtete sie hingegen als riskant, da es dazu eine Verfassungsänderung und damit eine Volksabstimmung brauchen würde, bei der auch das Ständemehr erreicht werden müsste [45].
Zum Vorschlag für ein Familienzulagengesetz, mit welchem gesamtschweizerisch einheitliche Familienzulagen eingeführt werden sollen, siehe unten, Teil I, 7d (Familienpolitik).
 
[42] Frauenfragen, 1995, Nr. 2-3 (Schwerpunktthema Mutterschaftsversicherung); CHSS, 1995, S. 191 ff.; TA, 14.2.95; NQ, 29.3.95; Presse vom 13.6.95. Für die ursprünglichen Vorschläge des EDI siehe SPJ 1994, S. 225 f. FDP und CVP schlugen die Ausrichtung von Mutterschaftsbeiträgen an alle Frauen vor, wobei die Finanzierung einerseits im Rahmen der Lohnfortzahlungspflicht durch die Arbeitgeber, andererseits über eine Erhöhung der Mehrwertsteuer (FDP) oder über die Abschöpfung der Spielbankengewinne (CVP) erfolgen sollte.42
[43] Ww, 23.3.95; NQ, 29.3.95; TA, 5.4.95; WoZ, 14.4.95; NZZ, 19.4.95; LZ, 26.5.95.43
[44] Presse vom 17.11.95. Gewissermassen einen Abstecher ins Archiv unternahm die Berner FDP-StR Beerli. Sie holte das 1987 in der Volksabstimmung gescheiterte Modell für ein revidiertes Kranken- und Mutterschaftsgesetz (KMVG) hervor. Das KMVG hätte allen Frauen während 16 Wochen ein Mutterschaftstaggeld zugesprochen und die Zulage via Lohnprozente (je 0,15% für Arbeitgeber und Arbeitnehmer) finanziert. Vom ehemals umstrittenen Krankenversicherungsballast befreit und mit einem oberen Lohnplafond versehen, könnte sich diese Vorlage nach Ansicht Beerlis heute durchaus als mehrheitsfähig entpuppen (SoZ, 7.1.96).44
[45] Presse vom 21.11.95; SoZ, 26.11.95; NQ, 27.11.95.45