Année politique Suisse 1995 : Politique sociale / Assurances sociales / Arbeitslosenversicherung (ALV)
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Zweite Teilrevision des Arbeitslosenversicherungsgesetzes (AVIG)
Bei der zweiten Lesung der Gesetzesrevision zollte der Ständerat den Vorarbeiten des Nationalrates volle Anerkennung. Der Systemwechsel von passiver Versicherung zu aktiver Wiedereingliederungs- und Erwerbsfähigkeit wurde ebenso begrüsst wie die Neuregelung des Taggeldanspruchs, die Einführung regionaler Arbeitsvermittlungszentren und die Neuordnung der Finanzierung. Von links bis rechts waren sich die Standesvertreter aber einig, dass sich das Weiterbildungs- und Beschäftigungsprogramm für Arbeitslose in dem vom Nationalrat beschlossenen Umfang nicht realisieren lasse. Der Aufbau einer Parallelwirtschaft mit über 60 000 Arbeitsplätzen, an denen die reale Wirtschaft offenbar kein Interesse habe, sei den Kantonen nicht zuzumuten, ebenso wenig wie die Auflage, sich bei ungenügendem Angebot an der Finanzierung der deswegen notwendig werdenden ALV-Mehraufwendungen zu beteiligen.
Der Rat reduzierte deshalb das arbeitsmarktliche Pflichtangebot auf junge Arbeitslose bis zum 25. Altersjahr, womit sich die den Kantonen abverlangten Stellen auf knapp 15 000 Plätze verringerten. Bei den A-fonds-perdu-Beiträgen entliess er die Kantone angesichts ihrer anderweitigen Belastung wieder aus der Pflicht, gleich wie der Bund 5% ans jährliche Defizit zu leisten. Die Ständevertreter verschärften hingegen die Arbeitsannahmepflicht, indem nach vier Monaten Erwerbslosigkeit auch Arbeiten als zumutbar gelten sollten, die auf die Fähigkeiten oder bisherigen Tätigkeiten des Arbeitslosen nicht angemessen Rücksicht nehmen. Sie wollten die Karenzfrist von fünf Tagen vor dem ersten Bezug von ALV-Leistungen zwar ebenfalls sozialverträglich gestalten, bezeichneten aber keinen fixen Grenzbetrag, unterhalb dessen die Wartefrist nicht gilt, sondern wollten es dem Bundesrat überlassen, die Härtefälle zu bezeichnen [47].
Dies genügte nun der Kommission des Nationalrates wiederum nicht, weshalb sie erneut den Dialog mit den Sozialpartnern suchte, diesmal aber auch die Kantone und die Kommission des Ständerates als Gesprächspartner mit einbezog. Aus diesen Verhandlungen entstanden neue Vorschläge - in Anlehnung an den Tagungsort "Solothurner Kompromiss" genannt -, welche einen austarierten Mittelweg zwischen den ersten Entscheiden des Nationalrates und den Korrekturen des Ständerates darstellten.
Festgehalten wurde im Nationalrat an der möglichst raschen Wiedereingliederung in den Arbeitsprozess. Jeder Arbeitslose soll inskünftig gehalten sein, in einem arbeitsmarktlichen Programm tätig zu werden. Je nach Alter besteht ein unterschiedlicher Anspruch auf "freie" Taggelder: Erwerbslose unter 50 Jahren erhalten höchstens 150 ordentliche Taggelder, den Rest müssen sie mit dem Besuch von Beschäftigungsprogrammen, Kursen usw. "verdienen". Zwischen 50 und 60 Jahren werden 250 Taggelder ohne Vorbedingungen ausbezahlt, über 60jährige erhalten 400 Taggelder. Anders als im bisher geltenden Gesetz, wo durch die Teilnahme an Beschäftigungsprogrammen und Weiterbildungsmassnahmen die Bezugsdauer von Taggeldern ständig neu ausgelöst werden konnte, wurde diese nun definitiv auf zwei Jahre beschränkt.
Um nicht nur die Jugendlichen in den Genuss von arbeitsmarktlichen Massnahmen kommen zu lassen, wurde das Pflichtangebot der Kantone zur Bereitstellung von Beschäftigungs- und Weiterbildungsprogrammen wieder auf 25 000 Plätze erhöht, wobei Kantone, welche die vom Bundesrat festgesetzte Quote, die im Verhältnis zur Arbeitslosen- und Einwohnerzahl definierte werden sollte, nicht erfüllen, 40% der Taggelder jener Arbeitslosen übernehmen müssen, die in keinem Programm untergebracht werden können. Der Ständerat hatte hier nur 20% vorgesehen. Als Gegenleistung an die Kantone wurde auf deren A-fonds-perdu-Beiträge an den ALV-Fonds verzichtet. Diese sollten im Rahmen von 5% nur noch vom Bund geleistet werden. Hingegen wurden die Kantone nicht von der Verpflichtung enthoben, dem ALV-Fonds Darlehen mit einem gegenüber dem freien Markt niedrigeren Zinssatz zur Verfügung zu stellen [48].
Bei allem Entgegenkommen schuf der Nationalrat aber doch wichtige Differenzen zum Ständerat. Die nach vier Monaten vorzunehmende Verschärfung bei der Zumutbarkeit einer Arbeit lehnte er mit 101:62 recht deutlich ab. Zu einer längeren Diskussion führte die Ausgestaltung der Karenzfrist vor dem ersten Bezug von Taggeldleistungen. Die Genfer SP-Vertreterin Brunner beantragte im Namen einer Minderheit, diese Massnahme durch besondere Überbrückungs-Taggelder in der Höhe von 50% der ordentlichen Taggelder abzufedern. Nationalrat Epiney (cvp, VS) bezeichnete die Karenzfrist als eigentlichen Schwachpunkt der Vorlage. Es genüge nicht, den Bundesrat zu Ausnahmeregelungen zu ermächtigen, er müsse dazu verpflichtet werden. Sein Genfer Parteikollege Maitre wollte zumindest all jene Versicherten von der Karenzfrist ausnehmen, deren Verdienst weniger als zwei Drittel des für die obligatorische Unfallversicherung massgebenden Höchstbetrags von rund 97 200 Fr. beträgt. Schliesslich wurde dem Antrag Epiney zugestimmt.
Mit 92:43 Stimmen hielt der Nationalrat an der - leicht restriktiver ausgestalteten - Kurzarbeits- und Schlechtwetterentschädigung fest, obgleich quer durch die Parteien der Verdacht geäussert wurde, dass damit von Arbeitgeberseite sehr oft Missbrauch betrieben werde. Andererseits trat aber auch Brunner (sp, GE) für deren Beibehaltung ein, da mit dieser Lösung vielfach Entlassungen vermieden werden könnten, die sonst die Versicherung viel teurer zu stehen kämen [49].
Nach längerer Diskussion verzichtete der Ständerat mit 29:9 Stimmen auf seine ursprünglich beschlossene Verschärfung bei der Definition der zumutbaren Arbeit. Da auch Bundesrat Delamuraz bekräftigt hatte, ein rigoroses Festhalten an den vier Monaten dürfte einer befriedigenden Regelung im Einzelfall nicht gerecht werden, stimmte der Ständerat hier der gemässigteren Fassung des Nationalrates zu. Gewichtige Differenzen wurden hingegen bei der Art der Finanzierung beibehalten resp. neu geschaffen. Entgegen dem Nationalrat, der die Kantone neu mit 10% an den Kosten der Kurse und mit 20% an jenen der Beschäftigungsprogramme beteiligen wollte, schlug der Ständerat vor, für die Kantone einen Pauschalbeitrag von 2500 Fr. einzuführen. Die Bereitstellung von gesamthaft 25 000 Plätzen in arbeitsmarktlichen Massnahmen wurde bestätigt, doch wurden die Kriterien für deren Verteilung auf die Kantone anders definiert. Während der Nationalrat hier eine Mischrechnung zwischen Einwohner- und Arbeitslosenzahlen vorgeschlagen hatte, beantragte die Kommission der kleinen Kammer aus Solidarität mit der besonders von Arbeitslosigkeit betroffenen Romandie, dass jeder Kanton höchstens für 30% aller Arbeitslosen Programmplätze zur Verfügung zu stellen habe. Auf Antrag von Ständerat Schiesser (fdp, GL) wurde dieser Satz mit 30:7 Stimmen um weitere 10% auf 20% gesenkt [50].
Da die Vorlage bereits zweimal in beiden Räten beraten worden war, wurde sie nun der Einigungskonferenz zugewiesen. Diese schlug in der noch strittigen Frage der Mittelbeschaffung für arbeitsmarktliche Massnahmen vor, dass die finanzielle Beteiligung der Kantone an den Weiterbildungs- und Beschäftigungsprogrammen tatsächlich pauschalisiert werden soll, erhöhte den kantonalen Beitrag pro Jahresplatz jedoch auf 3000 Fr. In der Verteilung auf die Kantone setzte sich ebenfalls ein Kompromiss durch. So sollte bei der Festsetzung der kantonalen Quote die Zahl der Einwohner und der Versicherten, nicht aber mehr der real Arbeitslosen, berücksichtigt werden, wobei die Verpflichtung für die Mindestzahl der Plätze, die ein Kanton bereitzustellen hat, 25% aller Versicherten im Kanton nicht übersteigen darf. Auf diesen Kompromiss konnten beide Kammer einschwenken, worauf die Vorlage in der Sommersession definitiv verabschiedet wurdeUnbestritten war seit Beginn der Beratungen, dass zu Lasten des ALV-Fonds regionale Arbeitsvermittlungszentren (RAV) eingerichtet werden, welche die Wiedereingliederung effizienter vornehmen sollen als die lokalen Arbeitsämter. Keine Opposition erwuchs auch der Einführung von Ausbildungszuschüssen, welche mindestens 30jährigen Versicherten erlaubt, eine Berufslehre nachzuholen, sowie den Massnahmen zur Förderung der selbständigen Erwerbstätigkeit [51].
Das neue Gesetz wird etappenweise eingeführt. Auf den 1. Januar 1996 werden vorab jene Bestimmungen in Kraft gesetzt, die kurzfristig realisiert werden können, wie z.B. die Anhebung des beitragspflichtigen Lohnes, die Neuregelung der zumutbaren Arbeit, die Wartefristen für Jugendliche nach Abschluss der Ausbildung sowie die Verschärfungen bei der Kurzarbeits- und Schlechtwetterentschädigung. Bereits ab 1996 wirksam ist auch die Gesetzesbestimmung, wonach Arbeitslose bei der SUVA gegen Nichtberufsunfälle versichert sind [52].
Im Rahmen der dringlichen Massnahmen zur Entlastung des Voranschlages 1996 des Bundes versuchte die Landesregierung auf den Entscheid des Parlaments zurückzukommen, wonach nur der Bund A-fonds-perdu-Beiträge zu leisten habe und beantragte, diese ganz zugunsten der Finanzierung über Darlehen fallenzulassen. Ausgehend von einer geschätzten Arbeitslosenzahl von durchschnittlich 130 000 Personen versprach er sich davon eine Einsparung von 220 Mio Fr. Das Parlament zeigte sich unangenehm berührt vom Ansinnens des Bundesrates, ein Gesetz noch vor dessen Inkrafttreten bereits wieder mit dringlichem Bundesrecht abzuändern; beide Kammern beschlossen recht deutlich Nichteintreten auf die Vorlage [53].
 
[47] Amtl. Bull. StR, 1995, S. 85 ff. und 105 ff. Vgl. SPJ 1994, S. 228 ff.47
[48] Presse vom 25.4. und 26.4.95.48
[49] Amtl. Bull. NR, 1995, S. 1111 ff. und 1390 ff. Völlig überraschend versuchte NR Blocher (svp, ZH), dessen Partei an der Ausarbeitung des "Solothurner Kompromisses" beteiligt war, das zentrale Element der Vorlage, die arbeitsmarktlichen Massnahmen, wieder zu Fall zu bringen. Sein Antrag wurde mit 106:26 Stimmen verworfen. In der Schlussabstimmung votierten 17 Mitglieder der 25köpfigen SVP-Fraktion gegen das neue AVIG. In der Folge verlangte die SVP, das revidierte Gesetz sei auf Verordnungsebene weiter zu verschärfen; insbesondere sollte die Zumutbarkeit einer angebotenen Arbeit strenger gehandhabt werden (Presse vom 5.7.95). Für Ungereimtheiten bei der Kurzarbeits- und Schlechtwetterentschädigung siehe CHSS, 1995, S. 98 ff.; SoZ, 12.3.95; Presse vom 18.5.95.49
[50] Amtl. Bull. StR, 1995, S. 620 ff.50
[51] Amtl. Bull. NR, S. 1482 ff. und 1694; Amtl. Bull. StR, 1995, S. 709 f. und 798: In der Schlussabstimmung wurde die Vorlage im StR mit 32:6 Stimmen und im NR mit 134:39 Stimmen (bei 10 Enthaltungen) angenommen: AS, 1996, S. 193 ff.; Lit. Bucher, Lit. Erb und Lit. Pfitzmann; CHSS, 1995, S. 272 ff.; R. Gysin, "Umstrittene Nothilfe für Arbeitslose", in Plädoyer, 1995, Nr. 5, S. 19 ff. Die Genfer Sektion der Gewerkschaft Druck und Papier sowie einzelne Westschweizer Arbeitslosenkomitees ergriffen gegen das Gesetz das Referendum (Presse vom 21.7.95), doch konnten sie die notwendigen Unterschriften nicht beibringen (BBl, 1995, IV, S 850 f.; Presse vom 30.9.95). Die OECD erteilte der Revision gute Noten. Als geradezu revolutionär bezeichnete sie den Wechsel von passivem Taggeldbezug zur aktiven Vorbereitung auf die Wiedereingliederung. Begrüsst wurde auch die Einrichtung regionaler Arbeitsvermittlungszentren (Presse vom 12.10.95). Zu einem Pilotversuch mit den RAV im Kt. Solothurn siehe Die Volkswirtschaft, 69/1996, Nr. 4, S. 41.51
[52] Presse vom 23.9.95; Bund, 12.12.95. Unfallversicherung: AS, 1996, S. 698 ff.52
[53] BBl, 1995, IV, S. 1072 ff.; Amtl. Bull. StR, 1995, S. 1090 ff.; Amtl. Bull. NR, 1995, S. 2459 ff.53