Année politique Suisse 1995 : Politique sociale / Groupes sociaux
 
Kinder
Die Kommission für Rechtsfragen des Ständerates zog die für die Herbstsession bereits traktandierte Beratung über die Ratifizierung der UNO-Kinderkonvention kurzfristig zurück, da der Bundesrat erklärte, dass er sich weigern werde, eine von dieser Kommission eingereichte Motion entgegenzunehmen, welche ihn verpflichtet hätte, den Kindern aller ausländischer Arbeitnehmer möglichst rasch das Recht auf eine uneingeschränkte Familienzusammenführung zuzugestehen. Die Landesregierung begründete ihre ablehnende Haltung, welche einen Vorbehalt zur UNO-Konvention bedingt, mit der Absicht, vorgängig das gesamte Ausländerrecht neu zu regeln. Die Ständeratskommission wollte dagegen die Konvention ohne peinlichen Vorbehalt ratifizieren können. Um keine Stellvertreterdebatte über die anstehende Änderung der Ausländergesetzgebung zu führen und dem im Herbst neu gewählten Parlament die Möglichkeit zu geben, über diese grundsätzliche gesellschaftspolitische Frage zu bestimmen, beschloss die Kommission deshalb einstimmig, auf die Behandlung des von ihr bereits gutgeheissenen Geschäfts zurückzukommen und die Beratung im Plenum auszusetzen [63].
Gegen den Willen des Bundesrates, welcher Umwandlung in ein Postulat beantragt hatte, nahm der Nationalrat eine Motion Brunner (sp, GE) an, die verlangte, dass ausländische Kinder, die zur Adoption in die Schweiz gebracht werden, sofort in jeder Hinsicht wie Schweizer behandelt werden und nicht während zwei Jahren in einem rechtsfreien Raum bleiben. Bundesrat Koller verwies vergeblich darauf, dass das Anliegen mit der beabsichtigten Ratifizierung des Haager-Adoptionsabkommens erfüllt werde. Diese im Vorjahr unterzeichnete Konvention möglichst rasch dem Parlament vorzulegen, verlangte eine ebenfalls überwiesene Motion Eymann (lp, BS). Aus vorwiegend rechtlichen Überlegungen schwächte der Ständerat beide Vorstösse in Postulate ab [64].
In Weiterführung eines Vorstosses ihres Tessiner Parteikollegen Carobbio, dessen Motion im Vorjahr in ein Postulat abgeschwächt worden war, versuchte die Basler SP-Vertreterin von Felten, den Bundesrat mit einer Motion zu beauftragen, das Strafgesetzbuch so zu ändern, dass im Ausland begangene sexuelle Handlungen mit Kindern auch dann der Strafbarkeit vor schweizerischen Gerichten unterstellt werden, wenn das Delikt im Tatortstaat selbst nicht verfolgt wird. Als Begründung für ihr Beharren führte sie aus, dass Deutschland 1993 die sexuelle Ausbeutung von Kindern durch deutsche Touristen unter Anwendung des Universalitätsprinzips unter Strafe gestellt hat. Der Bundesrat verwies erneut darauf, dass ein derartiges Vorgehen nicht allein an der fehlenden gegenseitigen Strafbarkeit scheitere, sondern an den sich stellenden Beweisproblemen, da vor allem Länder der Dritten Welt in derartigen Fällen kaum Rechtshilfe gewähren würden. Die Landesregierung anerkannte aber, dass die sexuelle Ausbeutung von Kindern unter Ausnützung ihrer Notlage in einigen Ländern beängstigende Ausmasse angenommen hat, weshalb sie entschlossen sei, adäquate Massnahmen zu ergreifen, um den Schutz dieser Kinder zu verbessern. Die damit verbundenen Fragen bedürften aber noch vertiefter Abklärung. Auf ihren Antrag wurde die Motion in ein Postulat umgewandelt [65].
In seiner letzten Sitzung vor den Sommerferien verabschiedete der Bundesrat seine Stellungnahme zum Expertenbericht "Kindsmisshandlungen in der Schweiz". Zum besseren Schutz der Kinder will er weniger auf neue Gesetze, denn auf Prävention und auf Massnahmen im Bereich der Familien- und Gesellschaftspolitik setzen [66].
 
[63] Verhandl. B.vers., 1995, V, Teil II, S. 79 (Motion); LZ, 2.6.95; NQ, 25.6.95; NZZ, 9.9.95; TA, 28.9.95; Presse vom 29.9.95. Allerdings wurde (hinter vorgehaltener Hand) auch behauptet, die Konvention mit ihrer Betonung der Rechte der Kinder gegenüber jenen der Eltern sei den beiden CVP-Vertretern in der Kommission, Josi Meier (LU, Präsidium) und Carlo Schmid (AI) ohnehin zu weit gegangen, weshalb die Ausländerfrage ein willkommener Anlass gewesen sei, die Ratifizierung zumindest zu verzögern (Cash, 1.9.95). Mit einer Petition, die von über 80 000 Personen unterzeichnet wurde, forderten Amnesty International, die Landeskirchen und weitere Organisationen den BR auf, die UNO-Konvention vorbehaltlos zu unterzeichnen (Presse vom 8.2.95).63
[64] Amtl. Bull. NR, 1995, S. 272 ff.; Amtl. Bull. StR, 1995, S. 976 ff. Zum Haager Abkommen siehe SPJ 1994, S. 242.64
[65] Amtl. Bull. NR, 1995, S. 264 ff.; NZZ, 16.6.95. Siehe auch SPJ 1994, S. 242 f.65
[66] BBl, 1995, IV, S. 1 ff. Siehe dazu auch Amtl. Bull. NR, 1995, S. 1604; Presse vom 8.7.95. Für einen Vorstoss zur Einrichtung eines "Sorgentelefons" für Kinder vgl. a.a.O., S. 2200. Zu einer Umfrage unter den eidg. Parlamentarierinnen und Parlamentariern zum Stellenwert der Kinder- und Jugendpolitik siehe Lit. Kinder; Presse vom 2.9.95.6