Année politique Suisse 1995 : Enseignement, culture et médias / Culture, langues, églises / Das Verhältnis zwischen den Sprachgruppen
Nach vierjähriger Beratung zeichnete sich im letzten Moment eine Rettung für den revidierten Sprachenartikel in der Bundesverfassung (Art. 116 BV) ab. Zwar beantragte auch im Nationalrat eine Minderheit der vorberatenden Kommission unter dem Grünen Schmid (TG), die Vorlage bis zur Totalrevision der Bundesverfassung auf sich beruhen zu lassen, weil der vorliegende Mini-Artikel substanzlos sei und keine Volksabstimmung rechtfertige. Zudem erhalte der revidierte Sprachenartikel nichts, was nicht jetzt schon garantiert sei.
Die Mehrheit der Kommission für Wissenschaft und Kultur plädierte hingegen für die von ihr weiterentwickelte Kompromisslösung, welche auf die bisher zur Diskussion stehenden beiden Reizworte "Sprachenfreiheit" und "Territorialitätsprinzip" verzichtet und sich auf die Anerkennung des Rätoromanischen als Teilamtssprache sowie die Formulierung beschränkt, dass Bund und Kantone die Verständigung und den Austausch zwischen den Sprachgemeinschaften zu fördern haben. Zudem sollte der Bund nun generell auf Verfassungsebene jene Kompetenz erhalten, die er in den Kantonen Graubünden und Tessin faktisch ohnehin längst wahrgenommen hat, nämlich subsidiär zu den Kantonen besondere Massnahmen zur Erhaltung und Förderung bedrohter Landessprachen zu treffen.
Kommissionssprecher Bundi (sp, GR) unterstrich, dass die jüngste Kompromissvariante gegenüber jener des Ständerates zwei neue Elemente enthalte. Bund und Kantone erhielten erstens nicht nur die Kompetenz, sondern die Verpflichtung, bedrohte Landessprachen zu fördern und zu retten, wobei allerdings das Subsidiaritätsprinzip gewährleistet bleibe, da der Bund nichts gegen den Willen der Kantone unternehmen könne. Zweitens werde die Verständigung zwischen den Sprachgemeinschaften zu einem verfassungsrechtlichen Prinzip erhoben. Wie bereits im Vorschlag des Ständerates vorgesehen, erhalte die rätoromanische Sprache den neuen Status einer Teilamtssprache.
Bundesrätin Dreifuss bezeichnete diese bisher letzte Version ebenfalls als grossen Fortschritt. Auch wenn der Artikel nüchtern aussehe, biete er doch ein gutes Fundament, das es dem Bund erlaube, vermehrt für den Zusammenhalt unter den Sprachregionen zu sorgen. Einig war sich die Mehrheit des Nationalrates, dass dieser schlanke Artikel vor dem Volk Bestand haben sollte, weil er
auf die beiden sensiblen Begriffe der Sprachenfreiheit und des Territorialitätsprinzips verzichtet. Selbst die anfänglich sehr skeptischen Abgeordneten aus der Romandie konnten dem neuen Verfassungsartikel schliesslich zustimmen, so dass dieser deutlich gutgeheissen wurde
[26].
In der Kommission des Ständerates überwogen dann wieder die Stimmen jener, welche auf die Revision ganz verzichten wollten. Sie argumentierten, zur Diskussion stehe nur noch eine "ausgedörrte" Version des ursprünglichen Sprachenartikels, über die sich eine Abstimmung von Volk und Ständen nicht mehr lohne. Im Plenum beharrte der Thurgauer Onken (sp) aber darauf, dass in der Kommission noch einmal nach einer Lösung gesucht werden müsse. Sonst mache sich der Ständerat mitschuldig, ein Wesensmerkmal der Schweiz, die Viersprachigkeit, herabzuwürdigen. Der Bündner Brändli (svp) doppelte mit der Erklärung nach, die Romanen hätten grosse Hoffnungen in die Revision gesetzt. Abbrechen wäre ein Schritt in Richtung einer zwei- oder zweieinhalbsprachigen Schweiz. Der Rat folgte dem Aufruf und wies die Vorlage mit 32 gegen 5 Stimmen zwecks Konsensfindung an seine Kommission zurück.
Die Kommission legte dem Plenum schliesslich eine Variante vor, welche in den wesentlichen Punkten jener des Nationalrates entsprach. Aus Rücksicht auf die nach wie vor bestehenden Germanisierungsängste der Romandie schwächte sie aber die Kompetenz des Bundes, zur Erhaltung gefährdeter Landessprachen Massnahmen ergreifen zu können, in eine Bestimmung ab, welche diese Massnahmen allein auf das Italienische und das Rätoromanische beschränkt. Mehrere Redner wie auch Bundesrätin Dreifuss unterstrichen, dass damit alle Anforderungen der Motion Bundi aus dem Jahr 1986 erfüllt seien, worauf die Vorlage oppositionslos angenommen wurde. Da auch der Nationalrat angesichts der weit gediehenen Annäherung stillschweigend auf die noch einmal etwas moderatere Version des Ständerates einschwenkte, konnte die Verfassungsrevision noch in der laufenden Legislatur verabschiedet werden.
Beide Kammern stimmten dann ohne längere Diskussionen dem
revidierten Bundesgesetz über Beiträge an die Kantone Graubünden und Tessin zur Förderung deren Kultur und Sprache zu. Das neue Gesetz, welches dasjenige von 1983 ersetzt, schafft bessere Rahmenbedingungen für die Unterstützung der beiden Kantone in ihren Bemühungen um die Spracherhaltung und für einen flexibleren und effizienteren Vollzug der für die Förderung von Sprache und Kultur notwendigen Massnahmen. Die Finanzhilfe des Bundes soll für Graubünden von 3,75 Mio Fr. auf 5 Mio Fr. im Jahre 1996 erhöht werden, wogegen die Subvention an den Kanton Tessin unverändert 2,5 Mio Fr. betragen wird
[29].
[26]
Amtl. Bull. NR, 1995, S. 212 ff. Ein Antrag Maspoli (lega, TI) auf Zustimmung zur ständerätlichen Version, welche das Territorialitätsprinzip, nicht aber die Sprachenfreiheit explizit erwähnen wollte, wurde mit 115:15 Stimmen verworfen. Vgl.
SPJ 1994, S. 266 f.26
[29]
BBl, 1995, II, S. 1241 ff.;
Amtl. Bull. StR, 1995, S. 669 ff. und 1063;
Amt. Bull. NR, 1995, S. 1963 ff. und 2293;
BBl, 1995, IV, S. 468 f. Der StR schrieb daraufhin eine Motion Plattner (sp, BS) für die Förderung des Rätoromanischen als erfüllt ab (
Amtl. Bull. StR, 1995, S. 672). Siehe
SPJ 1994, S. 266 f.29
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