Année politique Suisse 1996 : Eléments du système politique / Droits, ordre public et juridique
 
Staatsschutz
Der Nationalrat befasste sich als Zweitrat mit der Volksinitiative "SoS. Schweiz ohne Schnüffelpolizei" und dem als indirekten Gegenvorschlag konzipierten Bundesgesetz über die Wahrung der inneren Sicherheit. Mit 116 zu 61 Stimmen empfahl der Rat die von der SP und der GP unterstützte Volksinitiative zur Ablehnung.
Mit derselben Stimmenzahl lehnte er auch den Antrag der Kommissionsminderheit auf Nichteintreten auf das neue Bundesgesetz ab. Die SP und die Grünen begründeten ihre Opposition gegen die Schaffung von gesetzlichen Grundlagen für eine präventiv wirkende Polizei damit, dass ein solches Gesetz überflüssig sei und nur dazu dienen würde, der Polizei unkontrollierbaren Handlungsspielraum zur Überwachung der Bürger zu verschaffen. Wo es um die Bekämpfung echter Gefahren gehe, sei das bestehende Instrumentarium ausreichend: insbesondere sei die Bekämpfung des politischen Nachrichtendienstes (Spionage) bereits rechtlich abgesichert, und bei Sprengstoffdelikten und schweren Gewaltverbrechen seien seit 1981 auch vorbereitende Handlungen strafbar. Diese Einschätzung wurde von den Sprechern der bürgerlichen Parteien und Bundesrat Koller zurückgewiesen. Letzterer argumentierte damit, dass die von der Linken befürchtete Überwachung der Ausübung politischer Rechte im neuen Gesetz explizit ausgeschlossen sei. Andererseits sei die Überwachung der Aktivitäten bestimmter politischer Gruppierungen (z.B. der kurdischen PKK oder der islamischen Heilsfront) auch dann erforderlich, wenn deren Mitglieder die Schweiz nur als logistische Basis benutzen würden, ohne hier aber kriminelle Akte zu begehen. Das Gesetz sei deshalb auch im Hinblick auf die Zusammenarbeit und den Informationsaustausch mit anderen europäischen Staaten notwendig.
In der Detailberatung strich der Nationalrat die Bekämpfung des organisierten Verbrechens aus dem Geltungsbereich des Gesetzes; nicht weil dieser keine Bedeutung zuerkannt wurde, sondern weil dies eine Aufgabe der strafrechtlichen Ermittlungsbehörden sei und auf Bundesebene mit den polizeilichen Zentralstellen bereits ein Koordinationsorgan bestehe. Bundesrat Koller argumentierte vergeblich damit, dass in vielen europäischen Staaten (allerdings nicht in Deutschland) die präventive Polizei auch in diesem Aufgabenbereich tätig sei. Eine gewichtige Differenz schuf der Rat bei den zulässigen Mitteln der präventiven Informationsbeschaffung. Gegen die Stimmen der FP, der Liberalen und eines Teils der FDP-Fraktion strich er die vom Ständerat aufgenommene Bestimmung, dass dazu auch ohne richterliche Anordnung der Telefon- und Postverkehr überwacht und elektronische Abhörgeräte eingesetzt werden können. Den Antrag der vorberatenden Kommission, dass im Staatsschutz grundsätzlich die im Datenschutzgesetz garantierten Einsichtsrechte gelten sollen, fand keine Mehrheit. Beschlossen wurde eine gleiche Regelung wie im Gesetz über die polizeilichen Zentralstellen, bei welcher der Datenschutzbeauftragte nur überprüft, ob eventuell vorliegende Daten rechtmässig bearbeitet werden, aber keine materiellen Auskünfte erteilt. In der Gesamtabstimmung wurde das neue Gesetz gegen die Stimmen der SP und der GP angenommen [15].
In der Differenzbereinigung hielt der Ständerat an dem vom Bundesrat gewünschten und von ihm in der ersten Lesung gutgeheissenen Einbezug der Bekämpfung des organisierten Verbrechens in den Staatsschutz fest. Mit knappem Mehr (16:14) beschloss er hingegen, auf die von der grossen Kammer abgelehnte Überwachung des Telefon- und Postverkehrs sowie den Einsatz von elektronischen Abhörgeräten zur präventiven Informationsbeschaffung ebenfalls zu verzichten. Er verabschiedete jedoch ein Postulat, welches den Bundesrat auffordert, die rechtlichen Voraussetzungen für den Einsatz solcher Mittel im Falle ernsthafter Gefährdung der inneren und äusseren Sicherheit abzuklären. Der Nationalrat beharrte - trotz eines engagierten Votums von Bundesrat Koller - mit 138 zu 35 Stimmen auf der Ausklammerung des organisierten Verbrechens. In bezug auf die Dateneinsicht nahm er zudem die Ergänzung auf, dass, in Ausnahmefällen und wenn dadurch die innere oder äussere Sicherheit nicht gefährdet wird, der Datenschutzbeauftragte auch materielle Auskünfte über gespeicherte Daten erteilen kann [16].
Noch bevor der Ständerat die erste Runde der Differenzbereinigung aufgenommen hatte, beschloss das hinter der Volksinitiative "SoS. Schweiz ohne Schnüffelpolizei" stehende Komitee, nach Abschluss der parlamentarischen Beratungen das Referendum gegen das neue Gesetz zu ergreifen [17].
Der Sonderbeauftragte für Staatsschutzakten, René Bacher, legte den Schlussbericht über die Offenlegung der Staatsschutzakten im Gefolge der sogenannten Fichenaffäre vor. Von den über 350 000 Personen, welche Einsicht in über sie angelegte Karteikarten (Fichen) verlangt hatten, waren knapp 45 000 registriert gewesen. Über 5000 Personen hatten zudem vom Recht Gebrauch gemacht, auch die zu ihren Fichen bestehenden Dossiers einzusehen [18].
 
[15] Amtl. Bull. NR, 1996, S. 686 ff. und 1277 f. (Schlussabstimmung Volksinitiative); Amtl. Bull. StR, 1995, S. 588 (Schlussabstimmung Volksinitiative); BBl, 1996, III, S. 36 (Volksinitiative); TA, 3.6.96 (Interview mit BR Koller); Presse vom 5.6. und 6.6.96. Vgl. SPJ 1995, S. 23 f.15
[16] Amtl. Bull. StR, 1996, S. 731 ff. und 740 f. (Postulat); Amtl. Bull. NR, 1996, S. 2114 ff.16
[17] NZZ, 7.10.96; TA, 8.10.96.17
[18] Presse vom 3.5.96. Siehe SPJ 1989, S. 22 ff., 1990, S. 25 ff., 1991, S. 26 f., 1992, S. 25 f. und 1993, S. 22.18