Année politique Suisse 1996 : Politique sociale / Groupes sociaux / Ausländerpolitik
Die Eidg. Kommission für Ausländerfragen (EKA) stellte im August einen Integrationsbericht vor, der ein stärkeres Engagement des Bundes und eine glaubwürdige Integrationspolitik verlangt. Die EKA begrüsste den Vorschlag des Bundesrates, bei der Revision der Ausländer- und Asylgesetzgebung die Integrationspolitik gesetzlich zu verankern. Die Assimilation der 1,3 Mio Zugewanderten und der rund 25 000 anerkannten Flüchtlinge werde die Zukunft unseres Landes wesentlich mitbestimmen. Es sei an der Zeit, dass sich Bund, Kantone und Gemeinden solidarisch dieser staats- und gesellschaftspolitischen Herausforderung stellten.
Nach Ansicht der EKA ist die Schweizer Bevölkerung für die Integration der Zuwanderer nicht genügend vorbereitet. Grossen Wert möchte sie deshalb auf eine
verstärkte Information legen. Weitere Schwerpunkte sind für sie eine
gezielte Ausländerbildung und ein vielfältiges Angebot zur
gemeinsamen Freizeitgestaltung. Auch politische Mitsprache gehöre zur gesellschaftlichen Eingliederung, doch seien in diesem Bereich keine raschen Fortschritte zu erwarten. Um den Stellenwert der Integrationspolitik zu erhöhen, regte die EKA unter anderem die Schaffung eines eigenständigen kleinen Bundesamtes oder die Einsetzung eines Beauftragten für Integrationsfragen an
[14].
Zu Einbürgerungen und zum Ausländerstimmrecht siehe oben, Teil I, 1b (Bürgerrecht und Stimmrecht).
Bern liess als erste grössere Stadt ein
Leitbild zur Ausländer-Integration ausarbeiten. Wenn es in der Vernehmlassung auf ein positives Echo stösst, soll es sukzessive in die Praxis umgesetzt werden. In der Gemeindeordnung soll die Stadt verpflichtet werden, die tatsächliche Assimilation der ausländischen Wohnbevölkerung zu fördern und die Mitwirkung der Ausländerinnen und Ausländer in städtischen Belangen zu unterstützen
[15].
Ein vom italienischen Konsulat zusammen mit dem Basler Justizdepartement iniziiertes Pilotprojekt will dem Umstand Rechnung tragen, dass
ausländische Jugendliche aufgrund ihres Identitätskonflikts zwischen dem traditionell geprägten elterlichen Umfeld und der Realität der schweizerischen Gesellschaft
besonders suchtgefährdet sind. Das umfassende Bildungs- und Beratungsprojekt, das auch den Aspekt der Gewaltprävention umfasst, richtet sich vorerst an italienische Jugendliche sowie an deren Eltern und Lehrer und wird zu einem Drittel von der öffentlichen Hand und zu zwei Dritteln von privaten Stiftungen getragen
[16].
Beim 4. Interkulturellen Forum der Schweizerischen Akademie für Entwicklung (SAD) hatten die ausländischen Jugendlichen der zweiten Generation die Gelegenheit, ihre Probleme zu diskutieren und Forderungen auszusprechen. Dabei zeigte sich, dass es schwierig ist, für eine so heterogene Gruppe allgemeingültige Rezepte zu formulieren. Generell konnte bei den Jugendlichen ein
Identitätsproblem ausgemacht werden, das sich auf zweierlei Arten artikuliert: Einerseits besteht der Druck, sich den Verhältnissen des Gastlandes anzupassen, andererseits das Bedürfnis, die Kultur des Heimatlandes beizubehalten
[17].
Das Statistische Amt des Kantons Tessin präsentierte eine breit angelegte
Studie über die Situation der Grenzgänger aus dem nahen Italien. Sie behandelt nicht nur wirtschaftliche Aspekte, sondern widmet sich auch ausführlicher als andere bisher erschienene Publikationen den soziologischen Begleiterscheinungen der täglichen Migration. Von 1990 bis 1996 schrumpfte die Zahl der "frontalieri" von 40 692 auf 30 829 Personen. Die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes bezeichneten denn auch viele Grenzgänger als ihre grösste Sorge. Diese wird dadurch verstärkt, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus Italien in zwei sozialstaatlichen Systemen leben. Sie entrichten die regulären Beiträge an die schweizerische Arbeitslosenversicherung, erhalten bei Arbeitslosigkeit aber nur gerade 30 000 Lire (rund 30 Fr.) pro Tag vom italienischen Staat, obgleich die Schweiz sämtliche von den Grenzgängern in die Arbeitslosenversicherung einbezahlten Gelder nach Rom überweist. Entgegen landläufigen Einschätzungen erklärte eine Mehrheit der "frontalieri", sich in der Schweiz wohlgelitten und integriert zu fühlen. Gemäss dem Autor der Studie steigt die gesellschaftliche
Eingliederung proportional zum Grad der beruflichen Qualifikation. Einen diesbezüglich hohen Grad hätten Pendler vorab im Tessiner Gesundheitswesen erreicht, wo sich bereits jetzt die Arbeitssituation der Zukunft in einem Europa der Regionen abbilde. Hier seien Grenzgänger und Grenzgängerinnen nicht mehr nur billige Arbeitskräfte, sondern eine echte Konkurrenz für einheimisches Personal
[18].
Es widerspricht nicht der Bundesverfassung, Schweizer und Ausländer in der
Sozialversicherung ungleich zu behandeln, sofern dafür ein vernünftiger Grund vorliegt. Das entschied das
Bundesgericht. Rund die Hälfte der Kantone hatte die Ausrichtung von Prämienverbilligungen in der Krankenversicherung auf Schweizer und auf Personen mit Wohnsitz in der Schweiz eingeschränkt. Saisonniers und Kurzaufenthalter wurden von der Anspruchsberechtigung ausgeschlossen. Die Gewerkschaft Bau und Industrie erhob gegen die entsprechende Thurgauer Regelung Beschwerde in Lausanne. Sie argumentierte, der Ausschluss der Saisonniers von der Prämienverbilligung verstosse gegen das Krankenversicherungsgesetz, welches eine Prämienverbilligung für alle Versicherten in bescheidenen finanziellen Verhältnissen vorsehe. Das Bundesgericht befand, eine
Schlechterstellung sei zulässig, weil Saisonniers in der Schweiz keinen Wohnsitz haben und ihr Lebensmittelpunkt nicht in der Schweiz liegt. Die wirtschaftlichen Verhältnisse von Saisonniers und Kurzaufenthaltern seien anders als jene von Personen, die auch ganzjährig mit den hiesigen - in aller Regel höheren - Lebenshaltungskosten konfrontiert seien. Saisonniers und Kurzaufenthalter, die nur vorübergehend in der Schweiz leben, können gemäss Bundesgericht keine Unterstützung aus allgemeinen Steuergeldern erwarten
[19].
[14]
Lit. EKA;
TA, 24.7.96; Presse vom 30.8.96. Vgl.
SPJ 1995, S. 260.14
[15]
Bund und
BZ, 10.10.96.15
[17]
SGT, 5.11.96;
SZ, 7.11.96;
Bund, 9.11.96.17
[18]
Lit. Bausch. Zur Lage der Grenzgänger in der Region Basel siehe
BaZ (Dreiland-Zeitung), 6.12. und 20.12.96.18
[19]
BüZ, 10.2.96;
NZZ, 9.12.96.19
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