Année politique Suisse 1997 : Partis, associations et groupes d'interêt / Partis
Christlichdemokratische Volkspartei (CVP)
Zu Beginn des Jahres wurde Nationalrat
Adalbert Durrer (OW) als Nachfolger von Anton Cottier (FR) erwartungsgemäss und einstimmig zum neuen CVP-Präsidenten gewählt. Rosmarie Zapfl (ZH) wurde als Vizepräsidentin bestätigt und François Lachat (JU) neu zum zweiten Vizepräsidenten gewählt. Neuer Generalsekretär wurde nach dem Rücktritt von Raymond Loretan der Journalist
Hilmar Gernet [16].
An einer Delegiertenversammlung in Luzern stellten die
CVP-Frauen die von der Mutterpartei jahrzehntelang vertretene Ablehnung des Schwangerschafts-abbruchs radikal in Frage, indem sie sich mit 42 zu 4 Stimmen bei 6 Enthaltungen
für eine Fristenregelung beim Schwangerschaftsabbruch von 14 Wochen und damit für die parlamentarische Initiative Haering Binder (sp, ZH) aussprachen. Die CVP hatte sich bisher konsequent sogar gegen eine soziale Indikation gewehrt und im Schwerpunktprogramm von 1994 nur die medizinische und juristische Indikation verankert. Die CVP-Frauen kritisierten insbesondere die unterschiedliche Handhabung der Gesetzesbestimmungen in den einzelnen Kantonen und verlangten die Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs. Gleichzeitig forderten sie, dass Verhütungsmittel leicht zugänglich und kassenpflichtig werden müssten. Der Entscheid der innerhalb der Partei zu einer eigenständigen Kraft erstarkten CVP-Frauen stellte die Gesamtpartei vor eine
Zerreissprobe. Sie vertagte die heikle Schwangerschaftsabbruch-Debatte auf eine ausserordentliche Delegiertenversammlung im August und setzte eine von der Solothurner Ständerätin Rosmarie Simmen präsidierte Arbeitsgruppe ein. Diese arbeitete zwei Modelle für einen straflosen Schwangerschaftsabbruch in den ersten zwölf Wochen aus: Während das "Schutzmodell mit Beratungspflicht" den Entscheid nach einer obligatorischen Beratung letztlich der Frau selbst überlassen wollte, hätte das "Indikationenmodell" Abtreibung nur bei einer medizinischen Notlage, nach einer Vergewaltigung oder bei Inzucht erlaubt, wobei eine Fachperson diesen Entscheid getroffen hätte. Nachdem eine Mehrheit der CVP-Bundeshausfraktion das Indikationenmodell unterstützt hatte, entschieden sich die
CVP-Delegierten im August mit 182 zu 91 Stimmen
überraschend für das Schutzmodell. Die CVP-Frauen, deren oberstes Ziel es war, dass der Abtreibungsentscheid letztlich bei der Frau liegt, zeigten sich mit dem Kompromissvorschlag zufrieden. Im November war das CVP-Modell in der vorberatenden Kommission des Nationalrates dann allerdings chancenlos; diese sprach sich für den straflosen Schwangerschaftsabbruch in den ersten 14 Wochen aus. Damit ist die CVP weiterhin im Dilemma. Immerhin machte der Entscheid der CVP klar, dass sich die Partei
weiter vom konservativ-katholischen Wählersegment löst und die konfessionelle und gesellschaftliche Öffnung, die sie nach den verlorenen Nationalratswahlen 95 ankündigte, ohne Rücksicht auf kurzfristige Wählerverluste auch umsetzen will
[17].
In der zweiten Hälfte des Jahres führte die CVP eine
Befragung zum Thema Europa durch. Die Parteimitglieder sollen sich bis im Januar 1998 zu möglichen Integrationsschritten äussern. Im April 1998 will die CVP an einem Parteitag ihren europapolitischen Kurs festlegen
[18].
Die CVP sprach sich für eine Stabilisierung der Sozialleistungsquote auf dem heutigen Niveau und - wie die FDP - für einen
Umbau des Sozialversicherungssystems aus. Gemäss CVP müssen sich die Sozialwerke künftig auf die Deckung der Grundbedürfnisse ausrichten, dafür könnten noch bestehende Lücken wie die Mutterschaftsversicherung und die Vereinheitlichung der Familienzulagen geschlossen werden. Um soziale Umverteilungen einfacher realisieren zu können, schlug sie die Schaffung eines einzigen Fonds zur Finanzierung aller Sozialversicherungszweige vor, der durch Verbrauchssteuern wie die künftige Spielbankensteuer, eine Energiesteuer oder andere Lenkungsabgaben zusätzlich alimentiert werden soll. Die Erhebung weiterer Lohnprozente lehnte sie ab. Bei der AHV regte die CVP den Übergang zu einer einkommensunabhängigen Einheitsrente an. Für die Arbeitslosenversicherung soll ein Zwei-Säulen-Konzept geprüft werden, das die Grundsicherung (Minimalrente) klar von Ergänzungsleistungen zur Beibehaltung des Lebensstandards trennt
[19].
Eine CVP-Arbeitsgruppe legte ausserdem Massnahmen zur
Senkung der Gesundheitskosten vor, zu deren wichtigsten Forderungen die Plafonierung der Arzthonorare und der Ärztedichte gehören. Die Spitalsubventionen sollen in Fallsubventionen umgewandelt und gemeinwirtschaftliche Leistungen wie Ausbildung oder Notfalldienst über Leistungsaufträge subventioniert werden, womit die automatische Defizitdeckung durch die Kantone wegfallen würde. Im Spitex-Bereich unterstützte die CVP-Arbeitsgruppe einen Leistungsstopp per Notrecht. Als mittel- und langfristige Massnahmen forderte sie mehr Bundeskompetenzen im Bereich Spitalplanung
[20].
Bei den kantonalen Wahlen büsste die CVP insgesamt neun Sitze ein und war damit nach der Freiheits-Partei zweitgrösste Wahlverliererin. Im Wallis und in Genf musste sie ausserdem je einen Regierungssitz an die SP abgeben.
Zur Gründung einer Christlich-sozialen Partei der Schweiz siehe weiter unten (andere Parteien).
[16] Presse vom 18.1., 20.1. (Präsidium) und 30.6.97 (Gernet).16
[17] Presse vom 14.4., 21.4. und 25.8.97;
NZZ, 17.4.97;
BZ, 19.11.97. Vgl. dazu auch oben, Teil I, 7b (Gesundheitspolitik).17
[18] Vgl. auch den Artikel des abtretenden CVP-Generalsekretärs Raymond Loretan, "Die CVP am 'point of no return' - Für eine konsequente Öffnung in Richtung Europa", in
NZZ, 8.9.97.18
[19]
NZZ und
SGT, 5.7.97. Vgl. das CVP-Positionspapier
Zukunft der sozialen Sicherheit in der Schweiz, Bern 1997. Zu einer Motion der CVP-Fraktion für eine generelle Familienverträglichkeitsprüfung bei Rechtsetzung und staatlichem Handeln siehe oben, Teil I, 7d (Familienpolitik).19
[20] Presse vom 27.5.97.20
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